EM-Blog, Tag 25: Ich bin immer für dich da, wenn du mich rufst

Katrin Trenner 08.07.2024

Die EM läuft weiter, aber für die deutsche Nationalmannschaft ist sie bekanntermaßen leider seit Freitagabend beendet. Der Hangover, unter dem Fußball-Deutschland leidet, hält auch drei Tage später noch an – die halbe Welt fühlt sich noch immer betrogen und wird nicht müde, über den nicht gegebenen Handelfmeter zu diskutieren.

Inzwischen gibt es schon eine Petition, die eine Wiederholung des Viertelfinals aufgrund der Fehlentscheidungen des Schiedsrichters fordert und momentan schon fast 400.000 Unterschriften gesammelt hat. Die Erfolgschancen sind wohl eher gering, aber wenn es dabei hilft, der Frustration Luft zu machen, ohne dabei untätig herumzusitzen – warum nicht.

Momente, die bleiben

Auch wenn die Niederlage gegen Spanien bitter war und Deutschland mitten ins Herz getroffen hat – die schönen Momente, die uns diese EM beschert hat, die bleiben. Das sehe ich ganz deutlich auch an mir selbst. Dafür, dass ich mich selbst bis zum 14. Juni ca. 19.30 Uhr noch überhaupt nicht in EM-Stimmung wähnte, hat sich in den vergangenen Wochen sehr viel geändert. Bereits nach dem Eröffnungsspiel gegen Schottland fühlte ich mich komplett abgeholt und war mittendrin im EM-Fieber. An einige Augenblicke dieses Turniers werde ich mich auch später noch (gerne) erinnern.

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  • Die Leidenschaft des Toni Rüdiger: Ein Symbolbild für den Einsatz und Willen des deutschen Teams bei dieser EM lieferte Antonio Rüdiger. Im Achtelfinale gegen Dänemark feierte der Abwehrchef, dessen Einsatz aufgrund einer Blessur am Oberschenkel noch fraglich gewesen war, seine Abwehrgrätsche gegen Ende des Spiels so, als hätte er gerade persönlich das Tor im Finale erzielt. 
  • Der neu frisierte Manuel Neuer: Die gleiche Leidenschaft sah man auch in einer Szene beim Spiel gegen Ungarn. Nach einer Doppelparade des Keepers in der 26. Minute feierten Kimmich und Tah ihren Keeper auf ungewöhnliche Art und Weise. Tah rüttelte heftig an Neuers Schulter, während Kimmich ihm so stark an den Haaren raufte, dass es so aussah, als wollte er sie ihm ausreißen. Neuer nahm es mit Humor und sagte im Interview nach dem Spiel augenzwinkernd: “Sich dann großartig die Haare machen zu lassen, ist nicht unbedingt zielführend.”
  • Der gutgelaunte Joshua Kimmich: Apropos Kimmich. Der hatte in der vergangenen Saison bei den Bayern wirklich nicht viel zu lachen. Um ehrlich zu sein, schien der Sechser-turned-Außenverteidiger schon länger mit sich zu hadern. Doch bei diesem Turnier sah man endlich mal wieder einen gut aufgelegten Kimmich. Schon lange wirkte er nicht mehr so ausgelassen und fröhlich wie bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit David Raum. Und auch sein Instagram-Post nach der Niederlage gegen Spanien klingt so viel hoffnungsvoller und positiver als das, was er vor anderthalb Jahren nach dem WM-Debakel in Katar schrieb. Bleibt zu hoffen, dass er diese guten Vibes in die neue Saison mitnehmen kann.
  • Der Lieblingsenkel der Nation: Wenn Oma anruft, dann drückt man nicht einfach weg. So jedenfalls sieht es David Raum, der gerade mit Kimmich im EM-Quartier eine Deutschland-Flagge aufhängen wollte, als sein Handy klingelte und seine Großmutter am Apparat war. Christoph Kramer versteht das, aber Lukas Podolski schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und ruft: “Mein Gott!”
  • Der barfüßige Leroy Sané: Dass der Zusammenhalt im Team bei diesem Turnier stimmte, und zwar auch bei denen, deren riesengroßes Ego ganz bestimmt für schlechte Stimmung sorgen würde (wie von vielen Fans prophezeit), zeigte eindrücklich Leroy Sané im Spiel gegen Spanien. Nach dem Ausgleichstreffer von Florian Wirtz sprintete er mit den anderen Ersatzspielern zum Torschützen, für den er selbst vom Platz musste, und mit dem er auch schon vorher um einen Startplatz kämpfte – in seiner Freude vergaß Sané wohl seine Schuhe, zumindest rannte er barfuss über den Platz, um Wirtz zu umarmen, zu herzen und zu küssen. Was für ein Egoist.
  • Der versöhnliche Abschied von Toni Kroos: Ich gebe zu, auch ich war skeptisch, als die Rückkehr von Toni Kroos in die Nationalmannschaft bekannt gegeben wurde. Läutet Nagelsmann damit wirklich den Umbruch ein, den alle so lautstark fordern? Doch diese Zweifel wurden sofort vom Maestro im ersten Spiel nach seinem Comeback aus dem Weg geräumt. Und auch wenn ihm der EM-Titel verwehrt geblieben ist: Es sieht so aus, als hätten auch die letzten Zweifler in Deutschland begriffen, was für ein grandioser Spieler dieser Toni Kroos eigentlich ist. Falls ihr es verpasst habt: Von Maurice gab es hier bereits einen sehr schönen Abschiedsartikel zu Toni Kroos.
  • Die Tränen des Thomas Müller: Der Fokus der Berichterstattung lag und liegt momentan berechtigterweise auf dem Karriereende von Toni Kroos, doch auch ein anderer verdienter Spieler wird wohl in Zukunft nicht mehr für die Nationalmannschaft auflaufen. Thomas Müller sagte direkt nach dem Spiel gegen Spanien, dass dies mit großer Wahrscheinlichkeit seine letzte Partie für die DFB-Elf gewesen sei. Auch seine Tränen nach Abpfiff deuteten auf einen endgültigen Abschied hin. Das Viertelfinale war Müllers 131. Länderspiel, damit rückte er auf Platz 3 der Nationalspieler mit den meisten Einsätzen vor. Das Ende einer Ära.

Ende gut, alles gut?

Diese Europameisterschaft scheint Fans und Nationalmannschaft wieder zusammengebracht zu haben (mal abgesehen von den AfDlern, die mit vielen der Spieler nichts anfangen können, aus Gründen). Ich habe die Nationalmannschaft lange geliebt, und diese Liebe fand ihren Höhepunkt mit dem Gewinn des WM-Titels 2014. Nicht nur wegen dem Erfolg, sondern auch geschuldet der Tatsache, dass die Özils, Boatengs und Mustafis ein fester Bestandteil des Teams waren – Spieler mit Migrationshintergrund. So platt das vielleicht auch klingen mag: Das bedeutete mir etwas. 

Vier Jahre später folgte das böse Erwachen. Und wieder lag es nicht daran, dass die Mannschaft schlecht spielte und als Titelverteidiger in der Gruppenphase sang- und klanglos aus dem Turnier flog. Nein, es lag vielmehr daran, was danach geschah: die Verantwortlichen beim DFB machten Mesut Özil zum Sündenbock und warfen ihn der deutschen Meute zum Fraß vor, nachdem sie ihn jahrelang als Posterboy für gelungene Integration und als Vorzeige-Migranten propagiert hatten. Und bevor mich jemand falsch versteht: Auch ich fand die Foto-Aktion mit Erdoğan schlichtweg daneben. Aber man hätte Özil dafür kritisieren und gleichzeitig sagen können: sorry, aber die rassistischen Anfeindungen, denen er sich im eigenen Land gerade massiv ausgesetzt sieht, das geht gar nicht. Weil Rassismus nie geht, fertig. Doch am Ende trat Özil aus der Nationalmannschaft zurück, und inzwischen schmückt er sich mit Grauen-Wölfen-Tattoos und sitzt als Ehrengast mit Erdoğan auf der Tribüne, wenn die Türkei gegen die Niederlande in Berlin spielt. 

Diese Entwicklung war aber in jenem Moment, 2018 direkt nach der WM, nicht abzusehen, und deswegen zerbrach etwas von meiner Liebe. Nicht für die Spieler oder das Team, sondern für das gesamte Konstrukt Nationalmannschaft und den DFB. Die Vorstellung, dass die Nationalelf Menschen mit Migrationshintergrund im Team hat und diese auch als vollwertige Mitglieder der Mannschaft akzeptiert werden, schien plötzlich doch nur eine Illusion, ein Wunschtraum gewesen zu sein. Um es mal ganz salopp zu sagen: Ich habe mich verarscht gefühlt. 

In diesem Jahr versuchte ich mich der Nationalmannschaft also wieder zu nähern: Angeführt von İlkay Gündoğan als Kapitän, mit einem Antonio Rüdiger als Abwehrchef, einem Jamal Musiala, der vorne zauberte, und meinem Lieblings-Sorgenkind Leroy Sané, dem ich so sehr wünschte, dass er es allen zeigt. Und siehe da, meine Liebe, momentan noch ein zartes, zerbrechliches Pflänzchen, sie wächst und gedeiht endlich wieder. Und vielleicht ist sie dann eines Tages wieder so groß, dass ich aus voller Inbrunst rufe (bzw. singe): “Hör mir zu: Ich bin immer für dich da, wenn du mich rufst! Ich halt zu dir, auch wenn es wehtut! Auch wenn’s so scheint, dass die ganze Welt in Flammen steht, solange wir zusammen sind, wird alles gut!”

Was sonst noch auffiel… 

  • Die Tatsache, dass ein männlicher Fußballer sich freiwillig die Haare pink färben lässt, scheint Jens Lehmann tatsächlich nachhaltig erschüttert zu haben. So sehr, dass er Andrich Persönlichkeitsprobleme unterstellt und Regeländerungen der UEFA bezüglich der Haarfarbe von Spielern prophezeit. Und ich sitze ebenso erschüttert vor dem Fernseher und frage mich erstens, was er überhaupt noch als Experte im Fernsehen zu suchen hat (ja gut, WELT TV, aber trotzdem) und zweitens, ob ich irgendwo im Keller noch eine Kettensäge rumliegen habe, um… nein, lassen wir das.
  • Ach ja, wo wir gerade bei Expert*innen und Moderator*innen sind – Boris Becker ist derzeit sehr aktiv auf X unterwegs. Aber die Outfits des ZDF-Teams scheint ihm nicht zu gefallen, so lässt zumindest sein Beitrag vom 06.07. vermuten:
    „Frage an das Publikum: @ZDF Fußball-Studio mit kurzen Jeans ohne Socken, sieht aus wie auf einer Strandbar in Mallorca (vielleicht gewollt) keine Kleiderschränke… ein Blick auf das Ausland (zumindest lange Arme oder Jackett, aber sicher keine kurzen Socken…) @EURO2024 tolle Experten, alles gut, aber etwas mehr fürs Auge.“
    Ich habe mir den Beitrag jetzt schon zehnmal durchgelesen und verstehe nur Bahnhof. Und eine Frage ans Publikum habe ich auch nicht gefunden?
  • Während ich mich oft dabei ertappe, wie ich Christoph Kramer zustimme, wenn er im EM-Studio fachsimpelt, war einer meiner Lieblingsmomente dieses Turniers, was die Expert*innen angeht, die Moderation von Bastian Schweinsteiger und Esther Sedlaczek zum Deutschland-Spiel gegen die Schweiz. Zuerst konnte er sich nicht mehr daran erinnern, worüber er kurz vorher mit Philipp Lahm gesprochen hatte, dann verwechselte er den Kaffeebecher mit seinem Mikrofon, und am Ende sagte er zu Bundestrainer Nagelsmann: „Wenn es im Achtelfinale gegen Serbien gehen sollte, sag Bescheid, ich hab‘ da Connections.“ Wenn Basti gute Laune hat, überträgt sich diese gleich auf mich. Isso.

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