EM-Blog, Tag 24: Die Zukunft ist rosig

Daniel Trenner 08.07.2024

Ehe wir in den zukünftigen Tagen nochmal mit dem Handspiel, der Leistung der Bayern-Spieler oder den Halbfinals zu tun haben werden, wollte nach Justin auch ich mich ausführlich mit der nahen Zukunft der deutschen Nationalmannschaft befassen. Zuvor ehren wir aber den zweifelsfrei größten Gewinner dieser Europameisterschaft, Bundestrainer Julian Nagelsmann.

Julian Nagelsmann – Kommunikationsmeister

Eines der verwirrendsten Dinge rund um Julian Nagelsmanns Entlassung beim FC Bayern vor noch immer gerade erst 16 Monaten war der Tenor, mit Thomas Tuchel nun einen besseren Kommunikator im Verein zu haben. Gewiss, Nagelsmann hat in seiner Bayern-Zeit das Herz vielleicht ab und an etwas zu sehr auf der Zunge getragen, doch die größten Probleme entstanden genau wie später bei Tuchel einfach aus dem Umstand, dass außer ihm, niemand den Verein offensiv nach außen vertrat und der Trainer zum einzigen Sprachrohr eines Vereins wurde.

Wie falsch die Absprache von Nagelsmanns kommunikativem Talents doch war, trat in den letzten sechs Wochen, vor allem jedoch in den letzten vier Tagen zum Vorschein. Der Bundestrainer nimmt jeden Fan, nein, die gesamte deutsche Öffentlichkeit mit jedem Auftritt derart mit, dass Menschen, die ihn vor zwei Monaten noch abgrundtief hassten jetzt an seinen Lippen hängen. Günther Jauch muss sich aktuell wahrscheinlich erstmals seit Jahrzehnten um den Titel des beliebtesten Deutschen fürchten.

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Die Zukunft der alten Garde

Thomas Müller

In ähnlichen Beliebtheitskreisen befindet sich unter den Spielern allerhöchstens Thomas Müller. Das Münchener Urgestein hat nach dem Ausscheiden als einziger Spieler sehr deutlich die Tür zum Rücktritt geöffnet. Das verblüffte schon sehr, hatte Müller nach der WM in Katar doch noch erklärt, so lange für die Nationalmannschaft bereitstehen zu wollen, wie er professionell Fußball spielt. Dieses scheinbare Umdenken deutet stark darauf hin, dass der ewige Thomas Müller intendiert, mit seinem Vertragsende im Sommer nächsten Jahres die Fußballschuhe ganz an den Nagel zu hängen.

Sollte Müller doch auch nach 2025 weiterhin Fußball spielen wollen, kann und sollte er auch weiterhin in die Nationalelf berufen werden. Als vorbildliches Bindeglied ist er weiterhin unglaublich wertvoll für ein Mannschaftsgefüge, auch wenn er 2026 wohl endgültig in die Rolle Lukas Podolskis bei der EM 2016 rücken würde, als de facto sportlich irrelevantes Element.

Manuel Neuer

Beim Torhüter bin ich gleichzeitig weitaus optimistischer, was eine Vertragsverlängerung über das Jahr 2025 angeht, wie klarer bezüglich seiner Zukunft in der Nationalmannschaft. Es gab viele sehr gute Gründe für Neuer vor diesem Turnier, doch nun sollte er mit der Heim-EM auch sein letztes Turnier gespielt haben. Die Fehler häufen sich, der Gegenwind wird stärker. Bei diesem Turnier war er für keines der vier Gegentore verantwortlich, doch es gab die fallengelassene Flanke am Ende gegen Ungarn, den nach vorne abprallenden Ball gegen Spanien. Bei der nächsten WM wäre Manuel Neuer 40 Jahre alt. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.

İlkay Gündoğan

Bei Kapitän Gündoğan sieht es derzeit nach seiner eigenen Entscheidung aus. Der Bundestrainer hat keine Anzeichen gesehen, ihn auszubooten. Im Gegensatz zu meiner ersten Reaktion nach Schlusspfiff ist das wohl auch richtig so, Gündoğan wird auch im nächsten Jahr wohl noch Stammspieler bei Barcelona sein und kann auch mit fast 36 Jahren Bestandteil einer WM-Mannschaft 2026 sein. Problematisch ist allerdings sein Kapitänsamt. Auch wenn Nagelsmann bereits jetzt Willens war, ihn auszuwechseln, hatte Gündoğan ja doch auch mit der Spielführer-Rolle einen Stammplatz inne. Allerspätestens jetzt muss die Mannschaft in der Offensive allerdings rund um Wusiala (Wirtziala ist immer noch der besse Name) aufgebaut werden.

Das flexible 4-2-3-1 mit ständigen Positionsrochaden hat sich bewährt, einer der beiden gehört ins Zentrum, der andere auf den Flügel, die dritte Position bekleidet ein Sané, Beier oder Gruda. İlkay Gündoğan kann hier auch in Zukunft ein Faktor sein, aber eine Stammplatzgarantie darf er nicht haben.

Optimal für eine mannschaftliche Hierarchie und dem nicht von der Hand zu weisenden Umstand eines öffentlichen Verlangens nach einem singulären Spielführer, wäre ein Rücktritt Gündoğans vom Kapitänsamt. Man könnte aber auch Joshua Kimmich noch offensiver als zweiten Spielführer präsentieren. Jupp Heynckes sprach in der Triple-Saison ja immer von “Kapitänen” im Plural, meinte Bastian Schweinsteiger immer mit, auch wenn der kaum die Binde trug.

Dass Kimmich zweiter Kapitän ist und nicht Toni Kroos oder Manuel Neuer, ist offenbar ein Umstand, der sich noch nicht ganz herumgesprochen hat. Kerstin von Kalckreuth vom ARD-Radio war nach dem Dänemark-Spiel jedenfalls ziemlich verblüfft.

Nahe Zukunft ist rosig

Für die unmittelbare Zukunft muss sich die Nationalmannschaft keine Sorgen machen, Toni Kroos wird man durch Aleksandar Pavlović oder den in München verkannten Angelo Stiller ersetzen können, speziell für den Bayern-Jungprofi scheinen die Voraussetzungen optimal. Wenn man ehrlich ist, war Toni Kroos’ letztes Turnier auch gar nicht so gut. Gegen die Schweiz und Dänemark spielte er teils eklatante Fehlpässe, gegen Spanien war er zwar faktisch nicht nahe eines Platzverweises, das allerdings auch nur, weil Taylor bei seinen Zweikämpfen in der ersten Halbzeit Gnade vor Recht walten ließ.

Falls alle Stricke reißen und Pavlović und Stiller beide enttäuschen, kann auch immer noch Joshua Kimmich zurück ins Mittelfeld und Henrichs auf die Außenposition. Vorne hat sich Kai Havertz fest gespielt, mit mehr Spielpraxis wird er vielleicht auch seine Torquote erhöhen. Grundsätzlich ist die aber nicht zu problematisch, denn wichtig sind die Tore im Team, nicht einzelner Spieler und davon hat die Nationalelf reichlich bei der EM geschossen. Elf Tore in fünf Spielen sind starke Zahlen, selbst wenn das Eröffnungsspiel die Torquote aufgebauscht hat. Der DFB kann jedenfalls nur hoffen, dass der FC Arsenal auch weiterhin keinen Weltklasse-Torjäger findet, sodass Havertz in vorderster Reihe reifen kann.

Antonio Rüdiger ist in zwei Jahren zwar auch schon 33, aber ein größerer Leistungsabfall scheint derzeit nicht anzustehen. In der abgelaufenen Saison war er der beste Verteidiger Reals, dürfte auch mit der Rückkehr David Alabas weiterhin Stammspieler bleiben. An seiner Seite kann man bei Nico Schlotterbeck auf eine weitere Leistungsstabilisierung hoffen. Schlotterbeck ist grundsätzlich das größte deutsche Innenverteidiger-Talent, er hat nur immer wieder diese Aussetzer, wie beim gescheiterten Dribbelversuch im eigenen Sechszehner gegen Dänemark im Repertoire. Für ihn spricht, dass der derzeitige Platzhirsch Jonathan Tah vor einem Wechsel zum FC Bayern und bald stark verringerter Spielzeit steht.

Das einzige echte Sorgenkind ist Robert Andrich und die Position des defensiven Sechsers. Andrich konnte die Erwartungen nicht erfüllen, dementsprechend wechselte Nagelsmann auch zum Spanien-Spiel, obgleich dies gehörig nach hinten ging. Can und Andrich dürften beide nicht zu alt sein für die nordamerikanische WM, Nagelsmann wird sich aber umschauen. Rocco Reitz trainierte bereits vor der EM mit und wird seine Chancen erhalten, denkbar ist allerdings auch, dass Nagelsmann mit mehr Zeit eine Mannschaft aufzubauen, ganz auf den defensiven Sechser verzichtet.

Viele Spieler in diesem Turnier sind kurz vor dem Alter angekommen, bei dem es bald kritisch werden könnte, doch ist das wahrscheinlich erst ein mittelfristiges Problem bis nach der WM für den möglicherweise schon nächsten Bundestrainer.

Was sonst noch auffiel

  • Dass die internationale Fachpresse das deutsche Bestürzen um den fehlenden Handelfmeter teilt, verblüfft mich. Ich hatte erwartet, unparteiische Beobachter würden die Argumente mit der Armhaltung sehen.
    2010 führte Lampards nichtgegebenes Wembley-Tor gegen Deutschland zur Einführung der Torlinientechnik. Das große Echo gegen die UEFA-Richtlinie lässt mich hoffen, dass ähnliches zur Handspiel-Thematik bevorstehen könnte.
  • Monate vor dem Turnier betete Nagelsmann gebetsmühlenartig vor, ein Turnier-Kader bestehe eigentlich aus 13, 14 Spielern, daher auch die klare Verteilung von Rollen.
    Sicher meinte er damit in gewisser Weise die Startelf-Spieler plus zwei, drei größere Rotations-Spieler, die am Ende bei diesem Turnier Niclas Füllkrug und Leroy Sané waren. Aber er meinte auch ganz bewusst, dass der restliche Kader in gewisser Weise sportlich vernachlässigbar ist.
    Diesen Plan hat Nagelsmann im Verlauf des Turniers gekippt. Er erkannte wie sehr die Aussicht auf Spielzeit mit gutem Teamgefüge zusammenhing und setzte bis auf Robin Koch sämtliche Feldspieler ein. Vor der WM in Amerika wird er sicher wieder Rollen verteilen, aber er wird anders sprechen.
  • 50 Jahre nach dem Gewinn der Heim-WM hat die Sportschau eine sehenswerte Doku herausgebracht. Am bittersten, weil so vergleichbar mit dem aktuellen Turnier, ist Günther Netzers lakonisches Umdeuten der DDR-Niederlage, die Deutschland den einfacheren Weg ins Finale beschert hatte. Er ist sich sicher, andernfalls wäre man vorher gescheitert.
    Ohne Niclas Füllkrugs Ausgleichstor gäbe es zwar einen Dämpfer in Sachen Stimmung und Unbesiegbarkeits-Feeling, aber man hätte stattdessen gegen die fahrig biederen Engländer gespielt und wäre jetzt gegen Holland im Halbfinale. Es wäre ein guter Deal gewesen.
  • Ich habe nun mehrfach den Begriff der “schwächsten EM in Generationen” gehört und frage erstaunt, wo das herkommt?
    Zugegeben, die restlichen Viertelfinal-Spiele fielen im Vergleich zur Deutsch-spanischen-Partie ab und der französisch und vorallem englische Fußball der Risikominimierung schadet dem Turnier mit jeder weiteren Minute, in denen wir alle dieser Folter ausgesetzt sind. Aber das ist alles kein Vergleich zu 2016 als einer schrecklich torarmen Gruppenphase, schwache K.o.-Spiele folgten. Portugal mogelte sich fast mehr als England durch das Turnier!
  • Sollte die französische Nationalmannschaft Europameister werden, kann man die schöne Narrative bedienen, sie hätten erst gegen den Rassemblement National und dann die EM gewonnen. Bedauerlicherweise ist diese sozialpolitische Komponente das einzig schöne bei ihnen. Ihr Fußball bleibt scheußlich.
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