EM-Blog, Tag 18: Hätte, hätte, Fahrradkette
Es war ein Abend der Konjunktive: Hätte Frankreich sein Potenzial mal voll ausgeschöpft; hätte Lukaku doch endlich getroffen; hätte Ronaldo mal etwas mehr Teamgeist an den Tag gelegt; hätte Sesko sich doch an einem Lupfer versucht… dann wäre dieser Spieltag, der nur aufgrund des Elfmeterschießens etwas Dramatik bot, vielleicht weniger mies gewesen.
Bin ich schon fußballmüde, oder warum wirkten diese beiden Achtelfinals wie eine Schlaftablette auf mich?
Am Ende des Tages gab es ein Weiterkommen durch ein spielentscheidendes Eigentor, das erste Elfmeterschießen des Turniers und eine One-Man-Show, die viele Jahre lang erfolgreich war, inzwischen aber in die Jahre gekommen ist, den Zeitpunkt für einen Abschied längst verpasst hat und nun akut Gefahr läuft, abgesetzt zu werden.
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Aber gut, dann mal rein in den 18. Tag der Europameisterschaft.
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Frankreich – Belgien 1:0
Die WM 2018 habe ich in großen Teilen schon vergessen, oder besser gesagt, verdrängt – steht sie doch sinnbildlich für den Anfang vom Ende für die deutsche Nationalelf, um es mal högschd dramatisch zu formulieren. Oder zumindest doch für den Beginn eines mehrjährigen Dornröschenschlafs, aus dem uns Julian Nagelsmann erst kürzlich wieder wachgeküsst hat.
Aber ich kann mich noch relativ gut an das Halbfinale erinnern, in dem sich Frankreich und Belgien gegenüberstanden. Frankreich konnte das Duell für sich entscheiden, und wurde am Ende auch Weltmeister.
Doch nach der Partie waren Belgiens Spieler enttäuscht und sauer, fanden sie doch, dass die Art von Fußball, die Frankreich auf dem Platz gezeigt hatte, an eine Unverschämtheit grenzte: Effizienz und Minimalismus vor Ästhetik, Torhüter Courtois sprach verächtlich von „Antifußball“. Bis heute gibt es Stimmen in Belgien, die sagen, dass Frankreich sie 2018 um den WM-Titel gebracht hätten (dass man Kroatien im Finale geschlagen hätte – selbstredend!).
Deswegen war es nun fast schon ironisch, dass Belgien auf ähnliche Art und Weise das Achtelfinale erreicht hatte und nun ausgerechnet wieder auf Frankreich traf. Die beste Gelegenheit für eine Revanche.
Auch Frankreich zeigte bislang eher durchwachsene Auftritte bei dieser EM. Mit einem verwandelten Strafstoß von Mbappé und einem Eigentor Österreichs sind sie ins Achtelfinale eingezogen. Auf Papier also eigentlich die besten Voraussetzungen für ein spannendes Spiel, denn beide Mannschaften standen noch in der Bringschuld.
Aber wie es nun mal so ist im Fußball: Große Namen sind nicht gleichbedeutend mit großen Spielen (ähem, England). Frankreich konnte zwar ein Chancen-Plus verzeichnen und gewann am Ende verdient gegen wirklich schwache Belgier – aber man wurde das Gefühl nicht los, dass beide Teams ganz weit unter ihren eigentlichen Möglichkeiten spielten. Und dass Frankreich schon wieder nur dank eines Eigentors ein Spiel gewinnen konnte, ist auch kurios.
Didier Deschamps war im Interview nach dem Spiel trotzdem bestens gelaunt. Warum auch nicht? Seine Mannschaft wurschtelt sich zwar durchs Turnier, aber bislang sind sie damit ja auch erfolgreich. Ich hätte mir gewünscht, dass der Reporter ihn fragt: „Glauben Sie, dass jetzt nochmal irgendwann dieser Wow-Effekt kommt, dass es auch spielerisch besser läuft?“ und Deschamps dann gewettert hätte: „Wat wollen Se? Wollen Se ‘ne erfolgreiche EM oder sollen wa ausscheiden und haben schön gespielt? Ich schicke meine Spieler jetzt erst mal drei Tage in die Eistonne, danach analysieren wir das Spiel und dann sehen wir weiter.“
Portugal – Slowenien 0:0 (3:0 nach Elfmeterschießen)
Der Spielplan der Portugiesen fühlte sich für mich so an wie „alle Bälle zu Ronaldo, und dann inshallah“. Vielleicht war es aber auch gar nicht die Ansage des Trainers, sondern die von Ronaldo selbst, der offensichtlich vor Anpfiff nochmal Einzelgespräche mit seinen Mitspielern geführt hat, um ihnen zu erklären, wohin genau sie ihm den Ball zuspielen sollen.
Bastian Schweinsteiger sagte in der Halbzeitpause: „Ich hab‘ ihn jetzt schon 50 Freistöße schießen sehen, vielleicht sollte er mal jemand anderen ranlassen?“ Nette Idee, Basti, aber das würde ja bedeuten, dass Ronaldo sein Ego hinten anstellen müsste. Und seinen Teamkameraden – unter ihnen so viele großartige Spieler – einfach mal den Ball überlassen sollte. Aber wie heißt es doch so schön? There is no „I“ in „team“ bzw. There is no „Cristiano Ronaldo“ in “team”.
Bei der Partie Deutschland gegen Dänemark sah es erst so aus, als wollte Gündogan den Elfmeter schießen, doch nach einem kurzen Austausch mit Kai Havertz gab er den Ball schließlich an den Youngster. Man stelle sich vor, anstelle von Gündogan wäre Ronaldo der Kapitän gewesen. Er hätte Havertz wahrscheinlich eine Backpfeife verpasst, ob dieser Unverschämtheit. Oder hätte ihn verwirrt angesehen und gefragt: „Kennen wir uns?“
Es grenzte fast schon an Ironie, wie Ronaldo sich jeden Freistoß mit einer Selbstverständlichkeit nahm und ihn dann auf die Tribüne hämmerte. Gut, zwei recht knappe Freistöße waren dabei, aber mit Bruno Fernandes hat man jetzt auch nicht den schlechtesten Schützen in seinen Reihen. Eigentlich hatte man nur darauf gewartet, dass Ronaldo anfängt, die Abstöße von Portugal zu übernehmen und einen 100 Meter über das ganze Feld auf die Tribüne schießt.
Das Spiel lässt sich sehr gut mit folgender Szene aus meinem Wohnzimmer zusammenfassen: Meine Mutter, die erst vor einigen Tagen aus Indonesien zurückgekommen ist und deswegen noch unter Jetlag leidet, saß auf ihrem Sessel und nickte zwischendurch immer mal wieder ein.
Sie schreckte stets kurz hoch, wenn die Kommentatoren im Fernsehen etwas lauter wurden und warf leicht schläfrig spitze Bemerkungen in den Raum: „Ach, schon wieder daneben? Hihi!“ (diverse Freistöße von Ronaldo), „Ach, Mist!“ (vergebene Großchance von Benjamin Sesko), und „Ach, zum Glück ist es vorbei!“ nach dem Elfmeterschießen. Bitter für die Slowenen, die aufopferungsvoll verteidigt und bis zur letzten Sekunde gekämpft haben.
Was sonst noch auffiel:
- Ich hatte insgeheim auf ein Tor von Romelu Lukaku gehofft. Der belgische Stürmer hatte im Laufe des Turniers bereits dreimal getroffen, aber jedes einzelne Tor wurde vom VAR wieder aberkannt. Hätte er heute getroffen, hätte ich geschrieben: Und dass Lukaku ausgerechnet heute trifft, ist der Magie Düsseldorfs zu verdanken. Im Gespräch mit The Players‘ Tribune (das schon 2018 stattfand, aber trotzdem lesens– bzw. hörenswert ist), erzählte Lukaku, dass er mit seinem damaligen Trainer Thierry Henry gerne stundenlang über Fußball diskutierte, da er wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt sei, „der noch mehr Fußball schaut als ich.“ Dabei kamen sie wohl auch schon mal auf die Zweite Liga in Deutschland zu sprechen und fanden dabei besonders Gefallen an Fortuna Düsseldorf. So fragte Lukaku Henry einmal: „Hast du gestern Fortuna Düsseldorf gestern gesehen?“ Worauf dieser zurückgab: „Sei nicht albern. Natürlich hab‘ ich sie gesehen!“ Eine heimliche Liebe für Fortuna Düsseldorf also! Wer hätte das gedacht? Wenn Lukaku getroffen hätte, ausgerechnet in Düsseldorf, hätte ich das so schreiben können. Hat er aber nicht – und ich damit auch nicht.
- Daniel hatte Josip Iličić bereits beim EM-Blog, Tag 12 erwähnt, und ich möchte hier den Faden noch einmal aufgreifen. Es ist eine der schönsten Geschichten dieser Europameisterschaft. Er galt lange als einer der besten Mittelfeldspieler Europas, dann litt er unter Depressionen und wurde dadurch so weit zurückgeworfen, dass er nicht mehr spielen konnte. Iličić kämpfte sich zurück, sogar bis in die Nationalmannschaft. Schon im Gruppenspiel gegen England wurde er eingewechselt, heute sammelte er weitere Spielminuten in der Verlängerung. Ein SPIEGEL-Artikel fasst Iličićs Geschichte sehr gut zusammen und zeigt auf, wie wichtig es ist, dass auch im Fußball offen über mentale Gesundheit gesprochen wird und sich von der Vorstellung lösen muss, dass man im Leistungssport keine Schwächen zeigen darf.
- Noch ein verspäteter Nachtrag zum Spiel Deutschland-Dänemark, da es vielleicht nicht alle auf dem Schirm hatten: Die dänischen Spieler und auch Trainer Kasper Hjulmand drängten bei dem Unwetter sehr schnell auf eine Spielunterbrechung. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Der Fußballer Jonathan Richter wurde 2009 bei einem Trainingsspiel von einem Blitz getroffen. Er spielte damals für den FC Nordsjaelland, wo Hjulmand als Co-Trainer tätig war. Richter überlebte, verlor aber seinen linken Unterschenkel. Solche Vorkommnisse sind leider gar nicht so selten im Fußball: In Indonesien wurde im Februar der Fußballer Septian Raharja bei einem Freundschaftsspiel vom Blitz getroffen und erlag noch auf dem Weg ins Krankenhaus seinen Verletzungen. Und auch in Brasilien kam es im Dezember vergangenen Jahres zu einer Tragödie, als Caio Henrique de Lima Goncalves bei einem Pokalspiel ebenfalls durch einen Blitzschlag getötet wurde, mehrere Mitspieler wurden verletzt.
- „Who else?“ Nach dem Achtelfinale England – Slowakei wird derzeit viel über Jude Bellingham diskutiert, insbesondere über sein „Who else?“-Gebrüll nach dem zugegebenermaßen grandiosen Tor in der 95. Minute (nachdem er 94 Minuten lang so gut wie nicht zu sehen war) und einer vulgären Geste Richtung Slowakei-Fans. Einige empfinden ihn, für seine jungen Jahre (noch) unangemessen, als arrogant und fast schon größenwahnsinnig, andere sehen sein, nun ja, sehr gesundes Selbstbewusstsein als Zeichen wahrer Größe und sagen „endlich mal wieder ein richtiger Typ!“ Ich finde ja, dass man ein „Typ“ sein kann, ohne dabei abzuheben oder in Arroganz zu versinken, aber okay, es gibt wohl Menschen, die mögen sowas. Ich finde die ständigen Vergleiche zwischen Bellingham und Jamal Musiala eigentlich ganz schön nervtötend und auch nicht zielführend, aber könnt ihr euch vorstellen, dass Musiala nach einem seiner Tore in Richtung gegnerische Fankurve läuft und ihnen entgegenbrüllt: „Who else? Who else?“ Eben.