EM-Blog, Tag 16: Von Ritualen, Eminem und Maultaschen

Katrin Trenner 30.06.2024

Die zwei spielfreien Tage sind überstanden. Einige hießen die kurze Pause willkommen, um einer Überdosis Fußball zu entgehen und sich endlich den normalen Dingen des Lebens zu widmen.

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Einkaufen, joggen, lesen, mit dem Hund spielen, auf dem Balkon sitzen und einfach mal nichts tun. Andere wiederum fühlten sich so, als litten sie unter Entzugserscheinungen und waren orientierungslos, wenn es 18 Uhr schlug und im Fernsehen die Quizsendung „Gefragt, gejagt“ lief – wie, Andreas Bommes spricht nicht über Fußball, und niemand jagt einem Ball hinterher, sondern den richtigen Antworten zu komplexen Fragen?!

Anatomie eines Fußballfans

Fußballfans sind in der Tat eine besondere Spezies. Könnte man sie auseinandernehmen, würden man wahrscheinlich folgende Bausteine ausfindig machen:

  • Expertise: Die Fußball-Expertise variiert natürlich je nach Fan. Während es ausgeklügelte Taktikfüchse gibt, die stundenlang die Aufstellung, Raumaufteilung und das Rautensystem analysieren, gibt es wieder andere, die vielleicht sagen können, Dennoch: Eine grundlegende Fußball-Expertise ist unabdingbar, denn wie sonst könnte man ein Spiel verfolgen und es zumindest im Ansatz verstehen?
  • Widerstandsfähigkeit: Je nachdem, mit welchem Verein oder welcher Nation man es hält – ohne Widerstandsfähigkeit haben Fußballfans es nicht leicht. Es gilt immer, Niederlagen zu verkraften, Gewitterpausen zu überstehen, sich durch schwierige Phasen zu zittern, Transfers zu verschmerzen und Fehler zu verzeihen.
  • Hoffnung: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und deswegen sind die meisten Fußballfans sind mit einer gehörigen Portion davon ausgestattet. Müssen sie auch, denn sonst besteht ständig die Gefahr, in Pessimismus zu versinken oder den Glauben zu verlieren. Und das wäre ja fatal – denn ein Fußballspiel kann sich so oft noch drehen oder wider Erwarten überraschen.
  • Tränen des Glücks, Tränen der Trauer: Fußball löst Emotionen aus, das ist ein Fakt. Und da können auch schon mal Tränen fließen. In Augenblicken der bittersten Niederlagen (Finale dahoam, anyone? Oder WM-Halbfinale 2006?), aber natürlich in Momenten der schönsten Triumphe (54, 74, 90, 2014, ja so stimmen wir alle ein…).
  • Angst: Auch Angst und leichte Panik suchen uns Fußballfans immer wieder heim. Man könnte gut und gerne darauf verzichten, aber sie kommt wie ein ungebetener Gast, den man partout nicht aus dem Haus kriegt, so seht man sich auch darum bemüht.
  • Erinnerungen an glorreiche Zeiten: Was wäre ein Fußballfan ohne die gute, alte Nostalgie? Und dabei ist es ganz egal, ob man 16 oder 66 ist. Wie oft hört man bei gemütlichen Fußballrunden, ach, wisst ihr noch damals, als Miroslav Klose gegen Brasilien alleiniger Rekordtorschütze wurde? Als Oliver Bierhoff das erste Golden Goal in der Fußballgeschichte erzielte? Als Odonkor auf Neuville flankte? Als Schweinsteiger schon blutend am Boden lag und trotzdem immer wieder aufstand? O-o-o-o-h wie war das schööön.

Aberglaube und Rituale

Es ist bei weitem keine Besonderheit im Fußball: Viele Spieler*innen sind abergläubisch und haben Rituale, die sie befolgen, bevor sie den Platz betreten. Toni Kroos steigt zum Beispiel immer als letzter Spieler aus dem Teambus. Bastian Schweinsteiger feuchtete vor jedem Spiel seine Socken und Schuhe an, da dies angeblich sein Ballgefühl verbesserte.

Der englische Stürmer Gary Lineker weigerte sich, beim Aufwärmen das Toreschießen zu „üben“, weil er keine Tore verschwenden wollte. Und der französische Verteidiger Laurent Blanc küsste bei der WM 1998 vor jedem Spiel Torhüter Fabien Barthez auf den Kopf. Vielleicht sollte man Kai Havertz zukünftig kurzerhand verbieten, vor Anpfiff noch ein paar Schüsse aufs Tor abzugeben? Oder Manuel Neuer davon überzeugen, ab sofort vor Spielbeginn einmal zärtlich Robert Andrichs Bart zu kraulen?

Diese Angewohnheiten sind natürlich nicht nur auf die Spieler*innen beschränkt. Ein recht aufwändiges Ritual befolgte Romeo Anconetani, der ehemalige Präsident von Pisa, der regelmäßig Salz auf das Spielfeld streute, weil das seiner Mannschaft in seinen Augen Glück brachte.

Je bedeutsamer die Partie, desto größer wurde die Menge an Salz. Angeblich ließ er vor einem wichtigen Derby 26 Kilogramm verteilen. Aber mal ehrlich, kein Salz der Welt (und sicherlich auch nicht ein Einsatz von Calafiori) hätte der italienischen Nationalmannschaft heute den Sieg beschert. Die Schweizer waren in allen Belangen überlegen.

Auch Fans haben seltsame Angewohnheiten vor (wichtigen) Fußballspielen. Eine kurze Recherche im Netz bringt die verrücktesten Beispiele zutage. Eine ältere Frau beteuert, dass sie bei Deutschland-Spielen immer bügeln muss, sonst wird das nichts mit einem Sieg. Eine weitere Person gibt an, beim Elfmeterschießen immer am Zeigefinger zu lutschen.

Ich selbst hatte auch sehr anspruchsvolle Fußballrituale, die ich besonders bei der WM 2014 akribisch verfolgt, danach aber ad acta gelegt habe, da sie ja offensichtlich funktioniert hatten. Also, falls ihr noch nicht wusstet, bei wem ihr euch für den WM-Titel bedanken sollt: Es waren nicht Mario, Basti, Manu oder Jogi – sondern ich.

Was mir sonst noch durch den Kopf ging…

  • Mama Yakin: Immer, wenn ich Murat Yakin am Spielfeldrand sehe, denke ich an seine Mutter Emine Yakin, die im vergangenen Jahr im Alter von 89 Jahren verstorben ist. In den 2000er Jahren, als Murat und sein Bruder Hakan beide für den FC Basel spielten, radelte Mama Emine regelmäßig zum Training ihrer Söhne, mal um ihnen Butterbrote vorbeizubringen, mal um sie anzufeuern. Sie war auch schon mal als Spielerberaterin bei Vertragsverhandlungen anwesend oder feierte mit ihren Söhnen die Meisterschaft auf dem Balkon des Barfüsserplatzes in Basel. Die vielleicht legendärste Fußballmama aller Zeiten.
  • Lose yourself: Über den Namen Emine komme ich zum Rapper Eminem und seinem Lied „Lose yourself“, das mir immer dann durch den Kopf geistert, wenn ein Fußballspieler auf dem Platz zu einem Sololauf ansetzt. In diesem wundervollen Moment, wenn ein Spieler die Verteidiger abgehängt hat und allein aufs gegnerische Tor zuläuft, nur noch den Keeper überwinden muss und der Erwartungsdruck der gesamten Fußballwelt auf seinen Schultern lastet – wie etwa heute Kai Havertz, leider ohne Happy End – höre ich glasklar Eminems Stimme, der herausfordernd fragt: „Look, if you had one shot or one opportunity to seize everything you ever wanted in one moment, would you capture it or just let it slip?“ Und ich springe vom Sofa auf, Herz schon längst in die Hose gerutscht und vervollständige den Liedtext: „Success is the only motherf***ing option, failure’s not!“
  • Food fights: Natürlich habe ich gerade die Stelle des Lieds unterschlagen, in dem Eminem rappt: „He’s nervous, knees weak, arms are heavy, there’s vomit on his sweater already, mom’s spaghetti.“ Eine bizarre Wortwahl, ein bisschen eklig, weil zu anschaulich, aber trotzdem einprägsam und fast schon legendär. Was mich wiederum darauf bringt, dass während dieser EM sind in den Stadien so viele Schilder wie noch nie zuvor zu sehen sind, in denen die Nationalgerichte der einzelnen Länder denen der gegnerischen Mannschaft gegenübergestellt werden. Demnach ist Pasta besser als Paella, Gulasch besser als Rösti, Croissants besser als Wiener Schnitzel, Raclette besser als Mozzarella. Ich finde es super, dass die Kulinarik bei diesem Turnier nicht zu kurz kommt, und mir gefallen kreative und humorvolle Spitzen gegen die gegnerische Mannschaft tausendmal besser als beispielsweise Fangesänge, die Rhetorik aus dem Zweiten Weltkrieg aufgreifen oder auf sonstige Art und Weise unter die Gürtellinie gehen. Trotzdem – am Ende wissen wir doch alle, dass an unsere Maultaschen niemand rankommt.
  • Bambi: Maultaschen sind inzwischen synonym mit Jamal Musiala. Und gibt es einen besseren Weg, diesen Text abzuschließen als mit Fan-Liebling Musiala? Ein letztes Mal meldet sich Eminem zurück und ich nicke bestätigend mit meinem Kopf, im Rhythmus der Musik:„You can do anything you put your mind to, man!” Solange DFB-Chefkoch Anton Schmaus Maultaschen serviert.-      PS: Ach Mist, bei dem Wort „Koch“ geht meine Gedankenkette doch noch einen Schritt weiter. Ich stolperte unlängst über die Headline: „TV-Koch beleidigt Esther Sedlaczek“ und habe den Fehler gemacht, den Artikel anzuklicken. In einem Video bei Instagram hat sich TV-Koch Christian Lohse darüber echauffiert, dass Esther Sedlaczek keine Ahnung vom Fußball habe und – was fällt ihr ein – noch nicht einmal gut aussieht und sich gefälligst anders anziehen solle (hä?) und dass das Interview mit Toni Kroos sagenhaft schlecht gewesen sei (dummerweise war es gar nicht Esther Sedlaczek, die dieses Interview geführt hatte). Ich kannte Christian Lohse vorher nicht und habe nach seinem Wutausbruch auch kein Bedürfnis, das zu revidieren. Ich kann nur an ihn zurückgeben, was auch mir schon manches Mal an den Kopf geworfen wurde: Zurück an den Herd, bitte!

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