EM-Analyse: Der Wind von 2006 – Spätes Aus gegen Spanien
Spielbericht
Als Schiedsrichter Anthony Taylor um Punkt 18:00 Uhr zum Spiel anpfiff, hätte er auch einfach den Gong zu einem MMA-Fight betätigen können, ein derartiges Getrete setzte direkt ein. Kroos blieb aus königlicher Begnadigung der gelbe Karton verwehrt, dafür musste Pedri früh runter, es kam der spätere Matchwinner Dani Olmo.
Deutschland hatte Mühe in die Partie zu kommen, fußte nach einigen guten Befreiungen aus dem spanischen Pressing jedoch Mut und erarbeitete sich mehr Ballbesitz, kam zu besseren Halbchancen. Das befürchtete hohe spanische Pressing fiel weitgehend aus, überhaupt schienen die Spanier gar nicht so sehr den Ball zu wollen. Zwischenzeitlich hatte der Gastgeber über 60% Ballbesitz.
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Beide Trainer wechselten zur Halbzeit und Spanien kam in kurzer Abfolge zu zwei guten Gelegenheiten, wovon sie die zweite nutzten. Olmo zog Kroos aus dem Defensivverbund, stieß dann in die Lücke, die der frische Andrich zu stopfen verpasste, Raum konnte Yamals Hereingabe nicht stoppen – 1:0.
Deutschland antwortete furios, es wurde nun direkter, zielstrebiger nach vorne gespielt. Spanien stellte mehr und mehr jegliche Entlastung oder Offensivbemühung ein, versuchte spätestens in den letzten 20 Minuten das Ergebnis nur noch über die Zeit zu retten. Dieser Versuch misslang, der eingewechselte Mittelstädt gab eine lange Flanke auf Kimmich, der Cucurella um eine halbe Körpergröße übersprang und zur Mitte zurückköpfte, wo Wirtz den Dropkick perfekt verwandelte.
Schlotterbeck jubelte ein wenig zu ausgelassen, was ihm eine Verwarnung einbrachte und Nagelsmann veranlasste, auf Anton zur nun nötigen defensiven Stabilität zuzugreifen. Deutschland sammelte sich Anfang der Verlängerung ein paar Minuten, dann übernahmen sie wieder die Kontrolle, spielten auf das Siegtor, kamen zu Chancen. Die größten waren ein verzogener Linksschuss Wirtz’ und ein Konter Wirtzialas, bei dem der Abschluss ein wenig verpasst wurde.
In den letzten Minuten hatte Kroos überhaupt keine Kraft mehr, wodurch Deutschland seine Offensivbemühungen drosselte. Als alles nach Elfmeterschießen aussah, flankte Olmo von der rechten Seite zum eingewechselten Merino, der sich von Rüdiger wegstahl und förmlich in die Luft flog, dort perfekt zum 2:1 köpfte. Deutschland rannte nun an, kam sogar noch zu zwei guten Situationen, doch ein Tor fiel nicht. Der Gastgeber ist im Viertelfinale ausgeschieden.
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Nagelsmanns Überraschung zündet nicht – Die Korrektur schwächelt aber auch
Waren Nagelsmanns Startelf-Veränderungen gegen Dänemark noch überraschend, aber alles andere als unverständlich oder schockierend, taten sie genau dies gegen Spanien. Mit Jonathan Tah war gerechnet worden, Leroy Sané versus Florian Wirtz war ein Fifty-fifty-Duell, doch Emre Can hatte genau niemand auf dem Zettel. Der Bundestrainer argumentierte vor dem Spiel mit Cans angeblicher Geschwindigkeit, zudem sollte er die Kreise des Fabián Ruiz eindecken. Ich vermute allerdings, dass es weniger eine Entscheidung für Can, als gegen Andrich war.
Im Gegensatz zu seiner Frisur ziemlich gut versteckt, spielt Robert Andrich überhaupt kein gutes Turnier. Selbst gegen Schottland fiel er ab, gegen Ungarn und Dänemark war er eine Halbzeit lang jeweils schwach. Nur gegen die Schweiz und Dänemark überzeugte er in der Dreierkette gegen den Ball. Die sollte heute aber nicht angewendet werden, es blieben also Andrichs schlampige Bälle und Ballverluste. Andrichs Leistung bestätigt Nagelsmann Vorbehalte ja: Kaum befand er sich auf dem Feld, verpasste er es, den freien Raum, in den Olmo beim 0:1 sprintete, abzudecken. Erwies dem Team zudem noch einen Bärendienst, indem er sich darauf in der spanischen Hälfte eine völlig unnötige gelbe Karte erfoulte und somit nicht mehr für ein taktisches Foulspiel zu gebrauchen war.
Zu Andrichs Verteidigung lässt sich sagen, dass er seine Leistung in der Folge stabilisierte und mannschaftsdienlich agierte – seine ständigen kläglichen Weitschussversuche mal außen vor. Andrich kam ja in der Halbzeitpause nur in die Partie, weil Can direkt wieder raus musste. Der BVB-Kapitän konnte überhaupt nicht überzeugen, strahlte für sein eigenes Team ständige Gefahr im eigenen Ballbesitz aus. Seine an diesem Vorabend gezeigte Technik und Passschärfe, reichen für dieses Niveau einfach nicht, so deutlich muss man es sagen. Can war zudem auch ein Opfer des sich anders entwickelnden Spiels.
Nagelsmann und seine Spieler erwarteten offenbar einen Kampf um Balldominanz, es wurde ja auch in den vergangenen Tagen gebetsmühlenartig wiederholt, man werde auch leiden, sprich minutenlangen spanischen Ballbesitz erdulden müssen. So war das Spiel aber gar nicht, auch weil Olmo für Pedri früh in die Partie kam. Der Leipziger ist zwar alles andere als der klassische RB-Spieler, aber er ist zielstrebiger, weniger ballhortend. Deutschland kam zu guten, langen Ballbesitz-Zeiten, konnte sogar eine mindestens so scheinende Dominanz herstellen.
Cans Hereinnahme als Prellbock gegen das Duo Fabián und Pedri war also gänzlich unnötig, so fielen nur seine vielen Mängel im eigenen Ballbesitz auf. Ob dann nun Can oder Andrich mit schludrigen Zuspielen im Mittelfeldzentrum das eigene Spiel herunterziehen, ist im Endeffekt auch egal. Andrich wäre nur als eigentlicher Stammspieler aus Statusgründen in der ersten Halbzeit erst einmal weniger kritisiert worden.
Viel interessanter ist hier die Frage, ob Nagelsmann wirklich richtig in der Pause reagiert hat. Can rauszunehmen mochte zwingend notwendig gewesen sein, doch der Bundestrainer hätte auch einen anderen Spielertypen bringen können. Da Can zuvor vor allem mit dem Ball abfiel, hätte der Bundestrainer mit Pascal Groß auch einen dezidierten Spielaufbauer bringen können, um so Deutschlands bereits existierende Ballbesitz-Dominanz zu verstärken. So ein Wechsel wäre natürlich mit einigem Risiko verbunden, Andrich wird man den Fehler beim 0:1 nur persönlich anlasten, wäre Groß das passiert, käme mehr der Trainer unter Beschuss.
Spanien: Ein Scheinriese mit Konditionsproblemen
Viel wurde in den vergangenen 3 Wochen über diese spanische Mannschaft gesagt, viel wurde dabei auch gekonnt ignoriert. Das Spiel gegen Deutschland hat aufgedeckt, dass die Spanier noch nicht so weit sind, wie sie für viele scheinen. Das hohe Angriffspressing ließ die italienischen Spieler noch in kalten Angstschweiß ausbrechen, gegen Deutschland probierten sie es ein paar Mal am Anfang, um dann zu merken, dass es gegen den Gastgeber nicht so einfach wird – und ließen diese Versuche anschließend weitgehend sein. Insbesondere mit Führung im Rücken mutierte das Pressing spätestens ab der 70. Minute nur noch zu einem müden Begleiten. Systemischer Druck auf den Ballführenden war nirgends zu sehen. Stattdessen sammelte man sich hinten, um die Angriffe nur noch über sich ergehen zu lassen. Mit klassisch spanischem Spiel hatte dieser Vortrag 70 Minuten lang so gar nichts zu tun.
Vieles hatte mit konditionellen Problemen und fehlender Kadertiefe zu tun. Der gesamte spanische Angriffsvortrag ist auf ein echtes, klassisches 4-3-3 mit großem Flügelfokus zugeschnitten. Ihre größten Waffen sind Williams und Yamal auf den Außen, diese sollen immer bespielt werden. Nur fehlt ihnen dafür die Ausdauer, beziehungsweise speziell bei Yamal muss bezweifelt werden, ob der Körper schon gänzlich im Profifußball angekommen ist. Nur gegen Georgien konnten die beiden Flügelspezialisten durchspielen, einem Spiel, welches nach 51 Spielminuten gedreht und gewonnen war. Gegen alle anderen war nach gut 70 Minuten Schluss für die beiden und Spanien hat im Kader nur einmal Ersatz mit dem formschwachen Ferran Torres.
Deutschland wird es nichts mehr nützen, aber in gewisser Weise hat Spanien hier den groben Meisterplan enthüllt, um sie zu stoppen. 60, 70 Minuten lang muss man hinten gut stehen, dann geht den gefährlichsten Stürmern ohnehin die Puste aus und man kann selbst das Ruder an sich reißen. Die französischen Verteidigungsmonster freuen sich bereits.
Eine unverdiente Niederlage
Über 2,0 Expected Goals erspielte sich die deutsche Nationalmannschaft, Spanien je nach Modell zwischen 1,11 und 1,5. Wirklich die bessere Mannschaft war Spanien nur in den kurzen Phasen ganz am Anfang und Ende der ersten Halbzeit, zu Beginn des zweiten Spielabschnitts und Anfang der Verlängerung, als ein müdes Deutschland erstmal Luft schnappen musste.
Den Rest der ersten Hälfte war Deutschland tendenziell besser, nach Spaniens Führung wurde es sogar eine glasklare, drückende Überlegenheit. Egal ob Anzahl der Schüsse, Eckbälle oder eben Expected Goals, Deutschland ist in jeder Statistik mindestens leicht überlegen. Besonders interessant ist die Anzahl an Ballaktionen im gegnerischen Strafraum, da ist das Verhältnis nämlich komplett im Ungleichgewicht: Spanien kam auf 27, Deutschland auf ganze 43.
Deutschland mochte gegen die beste Mannschaft im Turnier angetreten sein, verloren hat man jedoch nicht gegen ein besseres Team. Man war das bessere Team. Deutschlands Niederlage ist unverdient. Die beste Mannschaft im Turnier ist nicht weitergekommen. Denn mit diesem Spiel ist das erst einmal nun der Gastgeber.
Das Handspiel – Keine Frage der Schussqualität
Bislang gänzlich unerwähnt blieb das Handspiel. Hier muss die Situation nicht noch einmal aufbereitet werden, wahrscheinlich wird Deutschland nun ewig Cucurellas Armeinsatz vor Augen haben, wenn der Begriff “Handspiel” fällt.
Die nun aufkommende Debatte sollte allerdings versachlicht werden: Nagelsmann und Kimmich mögen Recht haben, wenn sie die Qualität der unterbundenen Aktion hervorstellen, es ist aber kein Kriterium. Es mag stimmen, dass Musialas Schuss auf das Tor und möglicherweise auch reingeht, dieses Kriterium ist aber für die Schiedsrichter irrelevant bei der Beurteilung eines Foulspiels. Die Armhaltung ist zu beurteilen, nicht die Gefahr des Schusses Musialas im Vergleich etwa zu Raums Flanke gegen Dänemark, die zu einem Handelfmeter führte.
In meinen Augen ist hier die wahre Tragik der Handspiel-Problematik begraben. Viel zu oft ist das Vergehen nicht im Einklang mit der Strafe, der Dänemark-Strafstoß ist das perfekte Beispiel hierfür. Ein Freistoß wäre die bessere Variante gewesen.
Die Kapitäne
İlkay Gündoğan wurde vor dem Turnier kontrovers diskutiert. Es hieß, der Vereins-Gündoğan wäre nicht der Nationalspieler Gündoğan. Diese Diskussionen schienen eigentlich mit dem zweiten Spiel gegen Ungarn beerdigt, Gündoğan hatte da getroffen und stand dazu bei drei Assists. Ich selbst bescheinigte ihm nach dem Spiel, der zu dem Zeitpunkt beste Spieler des Turniers gewesen zu sein.
Davon kann mittlerweile überhaupt keine Rede mehr sein. Auf die zwei exzellenten Anfangsspiele folgten drei wirklich schwache Leistungen mit unglaublichen technischen Problemen, Fehlpässen und eben dem Fehlen der so starken Offensivlaufwege der ersten Partien. Auch gegen Spanien war nach knapp einer Stunde abermals Schluss für den eigentlichen Kapitän.
Die Kritiker sollten doch das letzte Lachen haben, denn nüchtern betrachtet ist dies nun ein weiteres sportlich sehr enttäuschendes Turnier İlkay Gündoğans. Noch am Tag des Ausscheidens wurde im Zuge des letzten (übrigens ziemlich schwachen) Spiels von Toni Kroos diskutiert, für wen nun ebenfalls Schluss sein könnte. Die Pessimisten des ZDF hatten sogar einen Beitrag über Kroos, Müller und Neuer bereit, doch der Name des Kapitäns und Platzhirsches, İlkay Gündoğan, fehlte.
Der Kapitän geht stramm auf die 34, zur nächsten WM auf die 36 zu. Der Bundestrainer und er sollten sich zusammensetzen und überlegen, ob es wirklich Sinn macht einen Platz zu horten, wo er doch schon jetzt regelmäßig erster Auswechselspieler ist und ob so die Binde nicht an den wahren Kapitän dieser Mannschaft, Joshua Kimmich, gehen sollte.
Kimmich überragte alle Spieler auf dem Feld, war der beste Mann auf dem Platz. Unglaubliche fünf Torschussvorlagen sammelte der nominelle Verteidiger über die 120 Minuten, eine davon verwertete Wirtz zum überlebenswichtigen Ausgleichstor. Einmal mehr zeigte sich in der Situation die starke Kopfballtechnik Kimmichs. Sie kommt bei seinen 1,77m bloß nicht oft zum Tragen.
Auch hinten ließ er nichts anbrennen, wenn Williams doch einen Stich setzte, dann nur weil Kimmich anderswo aushelfen musste. Als Nagelsmann den defensiv sehr involvierten Sané auswechselte, tat er es im vollen Bewusstsein, Kimmich sei vollauf im Spiel.
Dass es Kimmich war, der nach dem Ausscheiden in der Kabine eine letzte aufbauende Rede hielt, ist da ein nettes, wenngleich sportlich irrelevantes Detail: Dies ist Kimmichs Mannschaft.
Niclas Füllkrug: Wertvoll, aber limitiert
Gegen Spanien zeigten sich erneut Niclas Füllkrugs Qualitäten wie Unzulänglichkeiten. Füllkrug bindet mit seiner schieren Präsenz direkt ein, manchmal gleich zwei Abwehrspieler. Er kämpft um jeden Ball und hat selbst unter Druck einen guten Abschluss, wie bei seinem Pfosten-Schuss nach Halten Nachos. Aber beim Mitspielen merkte man ihm in jeder Szene die Überforderung an, konnte kaum einen Ball festhalten, brauchte zu lange, um weiterzuspielen. In gewisser Weise war er damit symptomatisch für die gesamten deutsche Angriffsbemühungen vor dem 1:1. Immer ein bisschen zu langsam, etwas zu verkopft.
Insgesamt war seine Einwechslung gewinnbringend, aber es zeigte sich abermals, wieso der Bundestrainer nicht auf ihn von Beginn an setzt und wieso sich das auch nach dem Turnier nicht ändern wird.
Parallelen zu 2006: Argentinien gemischt mit einer Prise Italien
Die Parallelen zu 2006 sind mittlerweile nicht von der Hand zu weisen. Auch vor dem letzten Heimturnier hatte die Nation sich weitgehend von der Nationalmannschaft entfremdet und erst zum Turnierbeginn sprang der Funken über. Auch 2006 hatte dieses gefeierte Last-Minute-Tor wie jetzt gegen die Schweiz. 2006, wie 2024, hatte man von Anfang an das Duell mit einem Mitfavoriten im Viertelfinale vor Augen.
Gegen beide Mannschaften folgte kurz nach der Pause die kalte Dusche, gegen beide Teams gab es in den letzten zehn Minuten den Ausgleich. Bei beiden Turnieren auch noch ausgerechnet nach einer Kopfballverlängerung. Gegen Argentinien 2006 schaffte man es bis ins Elfmeterschießen, ehe Lehmanns Zettel den Sieg brachte. Der Last-Minute-K.o. folgte erst im Halbfinale gegen Italien. 2024 mischte man das Italien-Erlebnis mit Argentinien. Die Spielminute des K.o. jedoch blieb gleich: Beide Male war es die verflixte 119. Spielminute.
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