EM-Analyse: Mit Sturm-Chaos und VAR – Deutschland glücklich wie verdient im Viertelfinale

Daniel Trenner 30.06.2024

Spielbericht

Die deutsche Fußballnationalmannschaft startete sehr frisch ins Spiel, war gleich von Beginn an mehrfach durch Ecken brandgefährlich, traf sogar früh, doch das Schlotterbecks Eckballtreffer wurde wegen angeblichem Foulspiels Kimmichs nicht gegeben – eine streitbare Entscheidung.

Nach gut 18 Minuten passte sich Dänemark besser an Deutschlands hohes Pressing an, konnte sein eigenes Spiel beruhigen und wiederum selbst die Deutschen vorne anlaufen. Nach 35 Minuten kam es zur ersten Halbzeitpause wegen eines Gewittersturms, welches sich gänzlich über dem Stadion manifestiert hatte. Nach Monsunregen, etlichen Blitzen und noch mehr Hagelkörnern, wurde noch einmal zehn Minuten Fußball gespielt, in denen beide Teams je eine Riesenchance vergaben.

Nach der zweiten Halbzeitpause schlug die bislang größte Stunde des VAR. Erst pfiff er ein Standardtor Andersens weg, weil Andrich gut zwei Zehenspitzen vor seinem Gegenspieler war, dann schickte er im direkten Gegenzug den englischen Schiedsrichter zum Monitor, nachdem erneut Andersen aus nächster Nähe den Ball mit der Hand spielte. Havertz überredete Gündoğan, ihm den Strafstoß zu überlassen – und verwandelte bombensicher.

Deutschland kontrollierte in Folge das Spiel weitgehend, kam zu zwei weiteren Großchancen, nutzte dann die dritte. Nachdem die Kugel nach hinten wieder zurückgereicht wurde, konnte Nico Schlotterbeck den Raum hinter der herausgelockten dänischen Defensive nutzen und einen fabelhaften langen Ball auf Musiala spielen. Der Münchener zuckte, der dänische Keeper zuckte, doch Schmeichel fiel zuerst. Obwohl er eigentlich den Libero geben wollte, zog er zurück und verteidigte die Linie – Musiala bedankte sich mit einem festen Schuss ins lange Eck.

Dänemark musste nun mehr kommen – doch es blieb beim 2:0. Deutschland steht damit erstmals seit 2016 wieder im Viertelfinale und empfängt am Freitag mutmaßlich Spanien – es sei denn, Georgien schafft nach der Sensation die Weltsensation.

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Endlich Standard-Gefahr!

Wenig bekannt und von der Öffentlichkeit stets ignoriert, leistet sich der DFB seit drei Jahren einen Standard-Trainer. Mads Buttgereit ist sein Name und wie insbesondere sein Vorname verrät, ist der Mann Däne. Abgeworben, nachdem Hansi Flick die dänischen Standards bei der letzten EM so sehr gefielen. Doch ist das gar nicht der Grund, wieso sein Name hier fällt.

Mads Buttgereit hatte nämlich bis zu diesem Spiel ein mittelschweres Problem. Seine skizzierten Standards zündeten nicht. Das war schon in Katar der Fall und setzte sich unter Julian Nagelsmann fort. Nur ganz am Anfang seiner Zeit in Testspielen loderte ein bisschen Feuer unter den ruhenden Bällen. Deutschland konnte auch in dieser Gruppenphase nur einen Hauch Standard-Gefahr ausstrahlen. Und dieser Hauch begann und endete mit einem Eckball Kroos’ von der linken Seite gegen Ungarn, als Andrich einen Volley direkt über das Tor setzte. Eine nette Spielerei, doch das Problem mit solchen spielerischen Eckball-Varianten ist, dass sie nur einmal umsetzbar sind. Einmal angewandt, wissen die Gegner, wo Gefahr blüht und unterbinden dies. Kleines Beispiel: Wie oft genau hat Arjen Robben nach Eckball Franck Ribérys ein direktes Volley-Tor gemacht? Eben.

Die weit sicherere Bank – auch statistisch erwiesen – und nicht einfach so zu unterbinden, ist der hohe Ball in den Fünf-Meter-Raum. Alle Türme gehen rein, ein bis zwei Spieler blocken und ab geht das Getümmel. Nichts von dieser sehr simplen Eckball-Taktik konnte die DFB-Elf in den Gruppenspielen zeigen. Obwohl man mit Toni Kroos einen der besten Eckball-Schützen der Fußballgeschichte in den eigenen Reihen hat und beide Innenverteidiger, sowie Andrich und Havertz groß gewachsen sind.

Nach elf Minuten hatte Deutschland mehr Standard-Gefahr ausgestrahlt, als zuvor im gesamten Turnier zusammen. Zweimal Schlotterbeck inklusive eines kleinlich aberkannten Tores, dazu Andrich. Nach der Sturm-Unterbrechung kam noch Havertz’ zu zentral geratener Kopfball dazu. Gerade die Ecken waren keine Raketenwissenschaft, die Riesen überluden das Zentrum, Kimmich blockte im Rückraum. Stets wurde es gefährlich. Sogar die dänischen Standards hatte man weitgehend im Griff, nachdem man gerade gegen Ungarn da noch gewaltige Probleme hatte. Alles blockte man weg – bis auf den einen Freistoß, der nur durch Glück und das Millimeter-Lineal der kalibrierten VAR-Linien nicht zählte.

Da konnte Mads Buttgereit natürlich jubeln. Aber noch mehr konnte er sich über das aberkannte Tor Schlotterbecks freuen, denn obgleich es kleinlich gepfiffen doch nicht zählte: Endlich trug Buttgereits Arbeit Früchte. Endlich griffen seine Standards. Endlich strahlte Deutschland Gefahr vom ruhenden Ball aus.

Dreierkette bringt Ruhe

Wie schon gegen die Schweiz begann Deutschland mit einer Viererkette. Wie schon gegen die Schweiz stellte Deutschland später auf Dreierkette um. Im Gegensatz zum Spiel mit der Schweiz passierte dies nicht schon nach fünf Minuten, sondern erst nach 35. Deutschland begann mit vier Mann hinten wie die Feuerwehr, spielte nicht nur laut Nagelsmann ihre besten 20 Minuten des Turniers. Zu Beginn war Deutschlands Gegenpressing extrem griffig, man drückte die beeindruckten Dänen hinten rein, nach dieser Anfangsphase allerdings verfiel Deutschland in einen Trott. Dänemarks Mannorientierung machte den Deutschen insbesondere in den Halbräumen zu schaffen. Selbst die passsichersten Spieler – Kroos, Kimmich und Gündoğan – spielten immer wieder zum Gegner, von Robert Andrich ganz zu schweigen.

In der Blitz-Pause stellte Nagelsmann dann auf die Formation aus dem Schweiz-Spiel um: Andrich ging ins Zentrum einer Dreierkette, Rüdiger und Schlotterbeck flankierten nun, Kroos war nun dezidierter im Zentrum und kollidierte so nicht mehr mit dem BVB-Innenverteidiger – zuvor bespielten noch beide den linken defensiven Halbraum.

Die Dreierkette beruhigte das Spiel in beide Richtungen. Dänemarks starke Phase vor dem Gewitter fand keine Fortsetzung, obgleich ihr Konter, den Neuer schlussendlich mit einer Parade unterband, etwas anderes vermuten lässt. Dieser Konter jedoch hatte mit der Formation wenig zu tun, sondern mit einem schlampigen Ballverlust Musialas.

Offensiv beraubte die Dreierkette den Deutschen die feurige Brillanz der Anfangsminuten. Mit drei Mann hinten braucht es stets ein wenig, bis der zentrale Spieler nach vorne prescht, Deutschland konnte Dänemark nicht mehr an dessen Box fesseln, doch standen sie dafür defensiv stabiler. Nagelsmann vertraute, dass vorne schon noch die Tore reingehen werden, Hauptsache man kassiert hinten nicht, was sich vor dem Gewitter durchaus anbahnte. Es ist eine Binsenweisheit, doch ohne Gegentor kann man bis zum Elfmeterschießen auch nicht ausscheiden.

Innenverteidigung brilliert

Für den gesperrten Jonathan Tah kam Nico Schlotterbeck in seinem Heimspiel in die Mannschaft und überzeugte mit seinem Champions-League-Gesicht. Der Dortmunder kämpfte, blockte, grätschte, fightete wie ein Vorstopper bester Schule und brillierte dazu mit dem Ball am Fuß. Schlotterbeck ist grundsätzlich der talentierteste deutsche Innenverteidiger in Julian Nagelsmanns Kader und zeigte das in all seinen Facetten.

Bedauerlicherweise gehört zu diesen Facetten allerdings auch, stets einen ungeheuren Fehler einzustreuen. So geschehen in der 41. Spielminute als Schlotterbeck nach toll gewonnenem Ball, bizarrerweise ins Dribbling geht und den Ball prompt im eigenen Strafraum verliert. Eine in der Situation abstruse Entscheidung. Überhaupt ist er ab und an etwas zu forsch, das Offensivverteidigen gehört zu seinem Repertoire, doch manchmal rückt er auch ohne Not aus der Kette.

In der 61. Minute war dies der Fall. Deutschland stand eigentlich gut sortiert mit Führungstor im Rücken die Dänen empfangend, da prescht der Dortmunder auf einmal heraus, jagt den ballführenden Spieler. Nur, wenn man sich als Innenverteidiger für eine Vorwärts-Verteidigung entscheidet, muss der Ball auch gewonnen werden, was in der Szene nicht der Fall war. Daraus entstand im Endeffekt nichts, aber das war nicht zwangsläufig der Fall.

Zu früh gefreut, Muskel-Mann! Nico Schlotterbeck hatte Michael Olivers Pfiff überhört.
(Foto: Ina Fassbender / AFP)

Hat sich Nico Schlotterbeck nun in diese Mannschaft gespielt? Seine spielerischen Vorzüge sind nicht von der Hand zu weisen, zudem stand er defensiv stabiler als es Tah noch gegen die Schweiz tat. Gegen mutmaßlich hochpressende Spanier ist gerade sein Spielaufbau natürlich Gold wert. Doch das Gefühl seiner früheren, immer unglücklichen DFB-Auftritte, konnte er trotzdem nicht ganz ausräumen: Mit Schlotterbeck nimmt man auch immer diese eine Harakiri-Aktion mit, die einen ausknocken kann.

Antonio Rüdiger hingegen spielte eine ruhigere Partie. Seine langen Bälle waren nicht so beeindruckend wie die seines Partners, aber immer noch so gut wie das ganze Turnier über. Dabei hatte er natürlich nicht die Aussetzer seiner beiden Partner, seine umjubelten Klärungen mussten nicht aufgewogen werden. Wohl auch deshalb ernannte die UEFA ihn zum Man of the Match. Verletzungsgeplagt und immer wieder deshalb auch auf dem Boden liegend, absolvierte Antonio Rüdiger sein bestes Spiel bei diesem Turnier.

Kai Havertz: Spielerisch brillant – bis zum Abschluss

Vor dem Spiel wurde wild diskutiert, ob Julian Nagelsmann endlich ein Einsehen hätte? Bringt er nun endlich den Wunder-Stürmer der Nation, Niclas Füllkrug? Kurz vor der Startelf-Bekanntgabe erhärteten sich gar die Berichte, des Volkes Willen werde erhört! Nur damit sich das ganze dann als Fehlinformation entpuppen sollte, oder – nicht unwahrscheinlich – um ein bewusst gestreutes Täuschungsmanöver.

Wie dem auch sei, blieb in der Sturmspitze alles beim Alten, im wahrsten Sinne des Wortes. Havertz gab sich abermals wuselig, kombinationsstark, wie -sicher, ließ sich fallen, lockte die Gegner heraus, erarbeitete sich Chance um Chance – und verballerte sie dann allesamt. Eigentlich war es ein weltklasse Spiel, nur kann man es unmöglich als solches bezeichnen, weil abermals null Tore aus dem Spiel heraus fielen und das ist dann einfach zu wenig bei dieser Qualität an Abschluss-Situationen.

Kai Havertz ist mit dieser Saison endlich zu einem echten Mittelstürmer geworden, Mikel Arteta hat ihm dafür beim FC Arsenal Stürmer-Laufwege eingetrichtert, ein Torjäger allerdings wird wohl leider nicht mehr aus ihm. Das muss man akzeptieren, insbesondere weil er nicht wenige seiner missratenen Tormöglichkeiten sich selbst erarbeitet, wie bei der vielleicht besten Ballmitnahme des Turniers in der 59. Minute, traumhaft mit der Ferse.

Das Volksgemüt mag es anders sehen, doch Kai Havertz gab auch gegen Dänemark dieser Mannschaft technische Dinge, wie nur er es vermag, auch wenn er partout seine eigenen Chancen selbst nicht nutzen kann. Überhaupt in diese Abschlusssituationen zu kommen, ist alles andere als selbstverständlich. Niclas Füllkrug hätte das bei vielen Szenen Havertz’ nicht geschafft, überhaupt hatte dieser ein ziemlich schwaches Spiel mit Tiefpunkt bei seinem gescheiterten Abseitstor in der 83. Minute. In der Situation darf ein Klasse-Stürmer weder so leicht ins Abseits laufen, noch so kläglich vergeben. Aber an chancenvergeigende Mittelstürmer hat sich Deutschland ja mittlerweile gewöhnt.

Demut bitte: Den Gegnern Respekt zollen

Deutschland tat sich wie schon gegen die Schweiz abermals schwer, hatte gegen Dänemark sogar eine gewaltige Portion Glück bei der knappen Annullierung ihres Führungstores. Der Elfmeter gehörte zudem eher zum Typ Geschenk. Sollten nun schrille Alarmglocken läuten? Nein, denn man muss beiden Gegnern auch einfach Respekt zollen. Wie stark die Schweiz ist, ist spätestens seit dem gestrigen Vorabend allen klar, Italien hatte nicht den Hauch einer Chance. Die Dänen überzeugten in der Gruppenphase zwar überhaupt nicht, doch ab dem Achtelfinale beginnt nicht nur im Volksmund ein anderes Turnier, die Dänen nahmen es sich gestern wirklich zu Herzen, zeigten mit Abstand ihre beste Leistung im Wettbewerb.

Es ist vermessen und abgehoben zu verlangen, so eine Mannschaft 90 Minuten lang ausschließlich herzuspielen, zumal man sich für die bärenstarke Anfangsphase nicht belohnen konnte. Gegen Spanien wird man sich steigern müssen, sollte es wirklich so kommen, sicher, doch man sollte auch die Demut erst vor den Schweizern und nun den Dänen nicht vergessen, sie haben es sich mit guten Leistungen verdient.

Ebenso verdient war dann allerdings auch der Erfolg der Nationalelf, so glücklich die VAR-Minuten auch waren. Dänemark kam auf zwei Top-Chancen Højlunds, Deutschland hatte neben der Tore mindestens drei weitere, die sogar noch gefährlicher waren. Ja, man hatte Glück, aber es war auch sehr verdient.

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