Die Bedeutung einer Auswechslung. Eine Glosse.
Der Artikel der tz macht mit der Aussage auf, Müllers Teamkollegen seien von seiner Auswechslung „geschockt“ gewesen. „Geschockt“ also, soso. Nun, zum einen sind die Spieler Profis, und selbst wenn sie in dem Moment der Auswechslung von Müllers Namen auf der Tafel überrascht waren, sollten sie routiniert und konditioniert genug sein, um trotzdem weiter unverändert ihre Leistung zu erbringen. Wer als Spieler von einer Auswechslung „geschockt“ ist, gehört nicht auf den Fußballplatz. Viele haben wahrscheinlich sogar sofort begriffen, warum Nagelsmanns Wahl in der Situation auf Müller fiel. Aber selbst wenn nicht, spätestens wenn er nach dem Spiel der Mannschaft seine Entscheidung erklärt, sollte sich jeder letzte Rest an „Schock“ verflüchtigen. Die Spieler mögen Nagelsmanns Erklärungen nicht überzeugend finden oder nicht damit einverstanden sein, aber anhaltend „geschockt“ sind sie danach sicherlich nicht mehr.
Im selben Artikel wird Müllers Auswechslung zu einer Grundsatzfrage hochgedreht und in einen größeren Zusammenhang mit dem Abgang von Lewandowski und der Entlassung von Tapalovic mit der Frage gebracht, ob Nagelsmann gerade dabei sei, nach Lewandowski und Neuer den dritten verdienten Bayernspieler innerhalb kurzer Zeit zu „demontieren“. In der Überschrift ist gar von einer „Demütigung“ die Rede. Auf die Idee, dass es bei Lewandowski und Nagelsmann menschlich einfach nur nicht passte (soll’s ja geben) und dass Neuer sich sein Grab mit seinem Unfall immerhin höchstselbst geschaufelt hat und alles, was danach passiert ist, eine Folge dessen ist, ist bei der tz wahrscheinlich keiner gekommen (macht ja auch keine so schönen Schlagzeilen). Auch Müllers Rolle als Kapitän wird grundsätzlich hinterfragt („sollte es jetzt Kimmich machen?“) und Matthäus – klar, der fehlte ja noch, wo ist Hamann? – spricht von einem „Politikum“. Das also ist der state of play in der deutschen Fußballberichterstattung. Statt einer läppischen Auswechslung wird Müller gerade von Nagelsmann grundsätzlich in Frage gestellt, ach was, gedemütigt und durch die kalte Küche abserviert und die Spieler sind „geschockt“. Drunter geht’s anscheinend nicht. Nur noch mal zur Erinnerung: Es geht hier um eine Auswechslung unter akutem Handlungsdruck nach einer roten Karte, und die Spieler sind Profis.
Aber damit nicht genug, denn natürlich (wie könnte es auch anders sein) greifen Heerscharen von Fans und die Öffentlichkeit jede noch so sensationelle Rhetorik begierig auf und fügen sie in ihre eigene zweckgetriebene Kommunikation ein. Je nachdem, wo man steht, wird der Vorfall anders interpretiert. Aber immer gilt: Jedes Medium schreibt irgendwas, je lauter desto besser, und jede dieser Äußerungen wird minutiös verfolgt, repostet, tagelang gewälzt, zerredet und zerrieben, bis am Ende jede mögliche Interpretation gleichzeitig stimmt und nicht stimmt. Aus einer Auswechslung wird Nagelsmanns Entlassungsurkunde, in den Fußballforen entzünden sich heilige Streite über Nichtigkeiten.
Im großen Bogenschluss wirkt der ganze medial-öffentliche Trockner, in den alles nach Belieben reingeworfen und unter großer Hitze gedreht und gewälzt wird, bis es entweder völlig trocken geworden oder desintegriert ist, schließlich zurück auf die Vereine und die Aktiven, die sich von diesen öffentlichen Wälzungen womöglich tatsächlich beeindrucken lassen und sich am Ende vielleicht wirklich einreden, sie seien „geschockt“ oder Nagelsmann verfolge einen perfiden Plan, die Führungsspieler der Bayern sukzessive zu demontieren (vielleicht ist er gar ein eingeschleuster Maulwurf?) – dabei ist alles, was vorgefallen war, doch ursprünglich eigentlich nur eine simple Auswechslung gewesen.
Und so dreht sich stets alles im Kreis und befeuert sich selbst, um narrative Kapriolen nie verlegen, und wir beobachten die Aufführung des ewig gleichen Schauspiels unter Beteiligung der ewig gleichen Akteure und Bespiegelung der ewig gleichen Themen unter Verwendung der ewig gleichen Sprachfiguren – und keiner wird je müde daran.
Ist es nicht schön?