EM-Blog, Tag 22: Aufbruch vs. Umbruch beim DFB
Das späte Aus in der Verlängerung hat Fußball-Deutschland getroffen. Auch am Tag danach ist die Niederlage noch nicht verarbeitet. Noch direkt nach Abpfiff wurde auf Magenta TV darüber diskutiert, wie man diese EM 2024 als eine Art Neuanfang für die kommenden Turniere betrachten könne.
Eine Diskussion, die ihre Berechtigung hat. Eine Diskussion, die direkt nach dem Aus Optimismus verbreiten sollte. Denn die recht klare Meinung der Beteiligten: Diese EM ist eine gute Basis für die WM 2026. Die Basis ist gelegt.
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Der Reflex, nach einer bitteren Niederlage das Positive herausstellen zu wollen, ist nachvollziehbar. Die Argumente sind zudem in Teilen berechtigt. Trotzdem war diese deutsche Mannschaft keine, die am Anfang ihrer Entwicklung steht. Es war eine, die sich in den kommenden Monaten stark verändern wird und stark verändern muss.
Und so muss dieses Turnier inklusive der Schlussfolgerungen auf mindestens zwei Ebenen betrachtet werden.
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Deutschland: Aufbruchstimmung im Land
Die erste Ebene ist die der Stimmung rund um die Nationalmannschaft. Hier gibt es keine zwei Meinungen: Das DFB-Team hat es innerhalb von wenigen Monaten geschafft, einen großen Teil Fußball-Deutschlands wieder hinter sich zu vereinen.
Offensiver, gut anzuschauender Fußball, eine Euphorie, die durch ein Heim-Turnier befeuert wurde, aber auch ein DFB, der nicht mehr durch peinliche Auftritte der Verantwortlichen auffiel – man hat zuletzt einiges richtig gemacht. Die Belohnung ist die Stimmung, die nun in diesem Land herrscht.
Viele Fans haben wieder Lust auf Nationalmannschaftsfußball, viele haben sich emotionalisieren und begeistern lassen. Ein Zwischenschritt, der notwendig war, um etwas zu bewegen. Eine Wechselwirkung, die den Spielern, die dem Land gut getan hat.
Deutschland: Umbruchstimmung im Team
Während das Land sich in Aufbruchstimmung befindet, herrscht beim DFB-Team nun aber eher Umbruchstimmung. Toni Kroos hat seine Karriere beendet, Manuel Neuer und Thomas Müller könnten die Nationalmannschaft bald verlassen. Ob sie bei der WM 2026 noch dabei sind, darf bezweifelt werden.
Selbiges gilt für Ilkay Gündogan, der zwar mit 33 Jahren womöglich noch ein Turnier im Köcher hätte, allerdings schon bei vergangenen Turnieren über ein Ende beim DFB nachgedacht hat. Pascal Groß (33) ist ein weiteres Fragezeichen.
Und dann sind da zusätzlich noch reine Formfragen: Antonio Rüdiger und Niclas Füllkrug sind bereits 31 Jahre alt, zahlreiche Spieler sind 28, 29 oder 30 – darunter Robert Andrich, Joshua Kimmich, Leroy Sané oder Emre Can. Einige von ihnen werden auch 2026 in der Lage sein, Fußball auf Top-Niveau zu spielen. Andere eher nicht mehr.
Deutschlands Kader wird sich 2026 stark von dem EM-Kader unterscheiden. Es kann de facto also nicht die Rede davon sein, dass diese Europameisterschaft ein sportlicher Startschuss war.
Was macht dem DFB-Team dennoch Mut?
Schlecht sein muss das natürlich nicht. Nur wird es eine große Herausforderung, die Entwicklung bis 2026 soweit voranzutreiben, dass man dort mit den Top-Nationen konkurrieren kann. Mut macht dahingehend, dass mit Julian Nagelsmann ein Trainer an der Seitenlinie ist, der genau das gut bewerkstelligen kann.
Zwar ist die Arbeit auf Clublevel eine komplett andere als bei einem Nationalteam, doch der ehemalige FCB-Coach hat in seinen ersten Monaten als Bundestrainer bewiesen, dass er sich nicht zu schade für schwierige Personalentscheidungen ist. Die Veränderungen, die er vor der EM 2024 vornahm, waren mitunter tiefgreifend und wurden viel diskutiert.
Es wird erneut auf dieses Fingerspitzengefühl ankommen – und darauf, wie Schlüsselspieler des aktuellen Teams ersetzt werden können. Das Potenzial ist durchaus da. Der Weg zum nächsten Turnier aber auch sehr weit.
Was sonst noch auffiel:
- Portugal hat vielleicht seine stärkste Partie bei diesem Turnier absolviert. Das war offensiv mitunter sehr ansehnlich und defensiv weitestgehend stabil – so stabil es gegen Frankreich eben sein kann. Ein hochattraktives Spiel war es nicht, aber gewiss eine sehr gute Leistung der Portugiesen, die bewiesen hat, warum sie zu den Favoriten zählten. Daniel hat es mehrfach geschrieben: Es ist fast schon witzig, wie viel sich auf Cristiano Ronaldo fokussiert hat. Dem mit Abstand schwächsten Offensivspieler des Teams. Auch gegen Frankreich hat das weitere Chancen gekostet.
- Frankreich wiederum wird zu sehr gehatet hierzulande. Spielen sie furchtbaren und unattraktiven Fußball? Na klar. Aber das hat alles System. Während man das beispielsweise den Engländern längst nicht mehr unterstellen kann, ist Frankreich fast schon wieder beeindruckend abgezockt. Gegen Portugal hätte es auch schiefgehen können, aber natürlich versenken die Franzosen alle ihre Elfmeter. Eiswürfel pinkeln und so. Ich glaube, die gewinnen das Turnier, obwohl sie kaum Tore erzielen.
- Gut, dass die UEFA den Wolfsgruß von Demiral sanktioniert hat. Auch gut zu sehen, wie sich die Regierung entblößt und den Wolfsgruß verharmlost. Es geht hier um nicht weniger als Rechtsextremismus. So bitter es zu sehen ist, wie viele Türken dafür keinerlei Verständnis zeigen beziehungsweise wie viele hinter Demiral stehen, so klar ist dann eben auch, wo diese Personen stehen. Das darf die UEFA für zukünftige Entscheidungen nicht beirren. (Zwei Spiele waren eher noch zu wenig aus meiner Sicht)