EM-Blog, Tag 7: Spanien setzt die Benchmark

Daniel Trenner 21.06.2024

Spanien – Italien 1:0

Italien wie Spanien überzeugten im ersten Spiel mit dem nebst Deutschland besten Ballbesitzspiel des Turniers, es wurde eine enge Partie erwartet und vom Ergebnis her war es das auch, doch das trügt. Spanien bestimmte von der ersten Minute an die Partie, presste Italien nach hinten. Donnarumma rettete mit der bislang mit Abstand besten Torhüter-Leistung des Turniers mehrfach weltklasse. Erst in den letzten Minuten schaffte Italien wirklichen Druck nach vorne auszuüben, weiterhin jedoch ohne für Torgefahr zu sorgen. Das Ergebnis machte die Dinger spannender, als sie waren.

Spanien: Eine Ballbesitz-Nation mit neuen Waffen auf außen

Die Abgesänge auf die Ballbesitz-Nation Spanien waren verfrüht und ohnehin von vornherein absurd. Gegen Kroatien mochte man nach 90 Minuten weniger den Ball gehabt haben, doch lag das zum einen an der frühen 3:0-Führung und zum anderen, dass die Kroaten selbst auch ganz gerne den Ball haben.

Nein, wie sehr die Spanier noch immer den Ball lieben, ließen sie die Italiener spüren. Sie liebten ihn so sehr, dass sie ihn sofort wiederhaben wollten, wenn sie ihn dann doch verloren. Das Geheimnis der spanischen Dominanz war seit jeher das Gegenpressing und ist es noch heute. Kaum war ein Ball weg, schnappten die Spieler hyänenartig zu und bekamen ihn wieder. Gerade Grimaldo-Verdränger Cucurella war hier immer wieder erfolgreich.

Überhaupt hat Spanien wohl das beste Außenverteidiger-Paar der Euro. Die Qualität weiter innen allerdings konnte von den Italienern nicht getestet werden. Gegen Kroatien wackelte das nominell nicht ganz so leistungsstarke Paar noch sehr. Le Normand von San Sebastian, Nacho als ewige Nummer drei Reals und Laporte aus der Wüste. Die eigentlich so großartige neue spanische Generation an Talenten scheint die Innenverteidigung übergangen zu haben, so richtig aufgedeckt hat es nur noch niemand.

Dafür hat sich das Talent gleichmäßiger verteilt, statt gleich sechs Weltklasse-Mittelfeldspieler zu haben, hat diese Generation endlich Panzerknacker links, wie rechts. Gerade Nico Williams spielte di Lorenzo derart schwindelig, der Europameister konnte einem leidtun.

Vielerorts wird diese Mannschaft als vertikaler gepriesen als die Altmeister rund um Xavi. Tatsächlich ist es einfach eine direkte logische Folge der Tempospieler auf Außen. Die Titelsammler hatten das noch nicht, so mussten oft Verlegenheitslösungen herhalten mit Iniesta oder Silva, die oft durchschlagsarme Statik kam nicht freiwillig. Außer David Villa besaß kaum jemand bei den Titelhattrickern nennenswerte Athletik, das hat sich nun grundlegend geändert.

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Italien kommt an seine Grenzen

Bei den Italienern erhärtete sich mein Eindruck des Albanien-Auftaktes: Was sie taktisch machen, ist eigentlich viel interessanter als die eigentlichen Spieler, die das ganze ja mit Leben füllen sollen. Verschiebungen von Offensiv-Libero-artigen Innenverteidigern und zurückfallenden Sechsern gab es gegen Spanien natürlich nicht zu bestaunen. Man rannte ja auch nicht 90 Minuten an, ganz im Gegenteil.

So deckte das spanische Angriffspressing auf, wie wenig Spielfähigkeit hinten bei Italien steckt: Um gegen diese Spanier zu bestehen, braucht man qualitativ hohen, selbstbewussten Spielaufbau. Hohe Technik auf den Flügeln kann auch sehr hilfreich sein, damit der lange Befreiungsball auch verarbeitet werden kann.

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Nichts davon hatte Italien. Der Abwehrkette fehlte die Pressingresistenz, den Wingern die Technik. Da halfen dann auch Jorginho und Barella nicht.

Aussichten für Deutschland

All diese Dinge sprechen übrigens für Deutschland. Die gestern noch entfachte Euphorie, wich während des Spiels vielerorts blankem Entsetzen, bei der Aussicht diesen Spaniern im Viertelfinale begegnen zu müssen, doch die Grabreden kommen zu früh. Deutschland hat nämlich die Passstärke hinten um sich zu befreien und die Techniker vorne, um nicht nur schwere Bälle zu verarbeiten, sondern mit den riesigen freien Räumen ein Fest zu veranstalten.

Moment mal, Deutschland und pressingresistent, seit wann denn das?

Man darf Pressinganfälligkeit gegen verteidigende Teams nicht mit dem vergleichen, was Angriffspressing a la Spanien einem abverlangt. Griechenland stand tief und attackierte die aufgerückten Aufbau-Spieler auf Höhe der Mittellinie, bei Spanien wären diese Duelle weit näher am eigenen Tor, was es gefährlicher für beide Teams macht: Bei einem Ballgewinn ist das Team mit Angriffspressing nah am Torerfolg, allerdings hat das verteidigende Team auch mehr Möglichkeiten zur Befreiung mit langen Bällen, weil das pressende Team nur noch mit wenigen Spielern absichert. In vorderster Reihe hat die Nationalmannschaft die besten Techniker des Turniers.

So sehr Deutschland schon seit Jahren mit pressenden Mittelklasse-Teams Probleme hat, gegen große Nationen fühlt man sich regelmäßig pudelwohl, mal tiefer stehen zu können, kombiniert sich dann immer wieder mit einer Sicherheit nach vorne, die Beobachter selbst in den dunkelsten Nationalmannschaftstagen überraschte.

Dieses Spanien allerdings würde es mit einem anderen, selbstbewussten Deutschland zu tun bekommen. Es könnte zum Kryptonit mit seinem Angriffspressing werden, doch Deutschland könnte mit seiner Technik auch zum Kryptonit Spaniens werden. Aber warten wir erst einmal das Achtelfinale ab.

Was sonst noch auffiel

  • Slavko Vinčić – Wie um Himmels Willen kommst du aus dieser völlig fairen Partie mit fünf verteilten gelben Karten? Falls es das Konzept der überschiedstesten Partie gibt – hat der kartenfreudige Referee aus Slowenien sie heute allen gezeigt.
    Zu viele persönliche Strafen, zu viel Gerede. Bei den finalen Standards führte er mit einem halben dutzend Spielergruppen Einzelgespräche, als beide Teams einfach nur weitermachen wollten.
    Für Deutschland schmecken die Verwarnungen für die beiden spanischen Verteidiger Carvajal und Le Normand natürlich ganz vorzüglich, aber es ist ein völliges Unding, dass in einem Turnier, in dem man bei zwei Verwarnungen direkt gesperrt ist, ein Referee mit Karten ohne Gedanken an den Rest des Wettbewerbs wütet.
    Falls Deutschland Vinčić vor dem Halbfinale bekommt, ist man spätestens im nächsten Spiel ausgeschieden, so viele gelbverwarnte Spieler man schon hat. Es bleibt ein Rätsel, was die UEFA in diesen mit dem Champions-League-Finale belohnten Unparteiischen sieht.
  • Bei allem Spanien-Lob bitte nicht außer Acht lassen, dass sie ein Eigentor brauchten. Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass sie genug Abschlussqualität auf dem Rasen haben.
  • Bisher waren die Man-of-the-Match-Entscheidungen gar nicht mal so schlecht, aber Williams vor Donnarumma? Ich fand den Europameister ehrlicherweise besser als in jeglicher Partie bei Italiens EM-Gewinn vor drei Jahren, als er bizarrerweise sogar bester Spieler des Turniers wurde.
    Das ist doch wieder typischer Ergebnis-Druck. Hätte Italien noch unverdienterweise am Ende einen Eckball reingedrückt, hätte man auch einen Italiener nehmen können.
  • Der kleine Bruder von “clever gespielt” ist “schlecht gespielt” und Englands Leistungen bisher sind aber komplett letzteres!
  • Man mauerte einfach nach dem 1:0 mit Mann und Maus, ließ Dänemark frei gewähren, das Spiel aufziehen. Wären das nur Kroos und Gündoğan oder Rodri und Fabián gewesen, England wäre filetiert worden!
  • Ja, ein Turnier wird nicht in der Gruppenphase gewonnen und ja, Argentinien und Spanien verloren ihre Auftakt-Matches bei ihren Weltmeister-Kampagnen, aber mich erinnert England viel mehr an Deutschland 2018, als man sich bis zum kläglichen Ausscheiden gegen Südkorea ebenfalls alles schönredete, weil ja Vorrunde war und die großen Gegner noch kommen sollten.
  • Frankreich kann wenigstens erwiesenermaßen tief verteidigen und tatsächlich auch kontern. Gegen Österreich war Mbappé ja permanent kurz vor dem Durchbruch. England zeigte davon nichts, aber auch gar nichts!

Wir wissen, dass es ein Experiment ist und wir keinen natürlichen Ersatz für Kalvin Phillips habenGareth Southgate – Du hast Declan Rice und Jude Bellingham auf dem Spielfeld!

  • Zudem völlig bizarre Auswechslungen. Harry Kane beim Stande von 1:1 20 Minuten vor Schluss vom Platz nehmen?
  • Die Kirsche auf der Torte der englischen Leistung war dann Pickfords Zeitspiel. Bei 1:1 im zweiten Spiel. Auflösungserscheinungen.
  • Ich mag Robin Gosens sehr und die kindliche Freude über Karničniks toller Einzelleistung beim Tor der Slowenen ist ansteckend, aber für die Co-Kommentierung der deutschen Nationalmannschaft hat er entschieden zu wenig Distanz.
    Bei Italien – Albanien glänzte er mit Serie-A-Insiderwissen, das will ich hören. Keine “Lecko Mio”s bitte, Robin!

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