FC Bayern – Misasanrot-Adventskalender, Nummer 1: Oliver Kahn
Ein Gastbeitrag von Sascha Felter.
Jede:r braucht ein Idol
Meines war ab der Weltmeisterschaft 2002 Oliver Kahn. Jener Oliver Kahn, der die Mannschaft quasi im Alleingang ins Finale des Turniers getragen hat. Mindestens so heroisch durch den Strafraum hechtend wie stoisch kaugummikauend.
Dabei war er zu dieser Zeit schon gemäßigt. Da ich Jahrgang 1996 bin, habe ich den „verrückten“ Oliver Kahn gar nicht mehr mitbekommen. Die Zeiten in denen er Heiko Herrlich an der Backe hing oder blutend Golfbällen hinterherjagte. Das macht aber nichts.
Was mich am gebürtigen Karlsruher immer beeindruckt hat, war sein Arbeitsethos und die Tragik um ihn herum. Kahn wird nie müde zu erwähnen, dass er nicht so talentiert gewesen sei wie andere Torhüter seiner Generation. Allerdings habe er immer im Training die berühmte Schippe draufgelegt und fehlendes Können durch puren Willen wettgemacht.
Kahn und die „talentfreien Tugenden“
Eine Geschichte, die sich natürlich gut vermarkten lässt. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass Kahn ja alles andere als ein untalentierter Torhüter gewesen ist. Gerade im Torwart-Bereich spielen Faktoren wie Nervenstärke, Disziplin und Beharrlichkeit eine sehr große Rolle. Heute würde man von den „talentfreien Tugenden“ sprechen.
Aus meiner Sicht war es die Stärke Oliver Kahns, dass er sich so stark auf Situationen fokussieren konnte. Den Ball stets im Auge zu behalten, auch wenn er am anderen Ende des Feldes ist. Oder in 90 Minuten für 100 Minuten Kommandos lauthals herausschreien. Das wurde mir aber erst nach seiner aktiven Karriere so richtig klar.
Natürlich faszinierten mich als Kind seine unglaublichen Flugparaden. Den „kahn’schen Übergreifer“, bei dem er einen hohen Ball mit der vom Boden aus gesehen oberen Hand aus dem Winkel fischt, ist legendär. Kein Torhüter stand jemals so stabil in der Luft wie der heutige Bayern CEO.
Wenn man sich heutzutage Highlight-Videos von ihm anschaut, reibt man sich verwundert die Augen. Was für die allermeisten Keeper eine einmalige Parade gewesen wäre, waren bei Kahn Usus. Diese pfeilschnellen Reflexe, mit denen er wie im DFB-Pokal-Finale gegen Borussia Dortmund noch die Hand hinter den Ball bringen konnte, gehörten zu seinem Torwartalltag.
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, wenn ich auf einzelne Paraden eingehen würde. Es fällt mir ja sogar schwer eine einzelne herauszupicken! Am Ende findet sich doch immer wieder eine, die noch besser scheint.
Auch Patzer pflasterten seinen Weg
Doch natürlich war nicht alles rosarot beim Titan. Patzer wie im WM Finale 2002 oder gut zwei Jahre später gegen Roberto Carlos in der Champions League pflasterten ebenso seinen Weg. Fehler gehören zum Torwartspiel wie Terrakotta in das Wohnzimmer von Oliver Kahn Anfang der 2000er.
Am heutigen Torwartspiel hat sich dahingehend gar nicht so viel geändert. Denn spektakulär durch die Luft fliegen können sie alle. Es geht in erster Linie darum, Fehler abzuschütteln und sich nicht davon beirren zu lassen. Entscheidungen müssen schnell getroffen werden und Verunsicherung sollte nicht nach außen dringen.
Wirklich angemerkt hat man dem früheren Bayern-Keeper den Druck selten. Zumindest nicht im negativen Sinne. Nur in der wohl wichtigsten Phase seiner Karriere. Kurz vor der Weltmeisterschaft 2006 leistete er sich den einen oder anderen Patzer. Zu viel für den damaligen DFB-Trainer Jürgen Klinsmann, der ihn, den großen Oliver Kahn auf die Bank setzte.
Von außen ist es zwar immer schwer zu beurteilen, aber ich glaube, dass er mit Beginn der WM 2006 deutlich entspannter und mit sich im Reinen war. Nach wie vor fokussiert, aber nicht mehr so verkrampft wie einst.
Seine öffentliche Wahrnehmung änderte sich ja komplett, nachdem er Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien die Hand reichte. Im Nachhinein eine Allerweltsgeste, die wohl in jedem Torwartteam vorkommt.
Mit Fokus gen Karriereende
Und auch wenn Kahn im Spätherbst seiner Karriere nicht mehr so überemotional war, so hatte er nach wie vor diesen Fokus. Ohne jedoch zu überdrehen und bei jeder Aktion aus dem Sattel zu gehen. Irgendwie war das rückblickend für mich die beste Phase seiner Karriere.
Viel löste er am Ende seiner Laufbahn über die Erfahrung und die unglaubliche Aura. Nichtsdestotrotz waren einzelne Paraden auch technisch sehr hochwertig. Das moderne Blockverhalten, wie es Torhüter wie Manuel Neuer oder Stefan Ortega mittlerweile an den Tag legen, hat Kahn nicht gezeigt.
Dafür ging er ein wenig zu früh nach unten, konnte aber erstaunlich oft das Fenster oberhalb des Kopfes dicht machen. Indem er mit guten Timing und Entschlossenheit auf den Angreifer schob, konnte er nur angeschossen werden.
Auf der Linie gab es nie einen Besseren als Oliver Kahn. Über fußballerische Aspekte oder das Verteidigen hinter der Kette ist es müßig zu diskutieren – es war halt eine andere Zeit.
Revolutioniert hat er das Torwartspiel nicht so sehr wie Manuel Neuer. Auch nicht in ein anderes Licht geschoben wie Jens Lehmann. Kahn hat die „klassischen Tugenden“ auf ein neues Level gehoben.