FC Bayern: Lewandowski weg – gibt es jetzt 100 Prozent Nagelsmann?
Im Jahr 2022 stellt sich beim FC Bayern die grundlegende Frage, wie das taktische Grundgerüst der Zukunft aussieht. Julian Nagelsmann steht vor der vielleicht größten Herausforderung, die ein Bayern-Trainer in der jüngeren Vergangenheit hatte.
Er muss den Abgang von Robert Lewandowski kompensieren. Der Stürmermarkt war und ist kompliziert. Weltklasse-Spieler wie Erling Haaland oder Harry Kane kosten zu viel. Selbst Talente wie Darwin Núñez kosten sehr viel Geld.
Und mit Ausnahme von Haaland haben wohl alle eines gemeinsam: Es ist unklar, ob sie beim FC Bayern funktionieren würden. Man würde eine Ablösesumme von 70 oder 80 Millionen Euro aufwärts für einen Spieler bezahlen, der im schlimmsten Fall gar nicht in das engmaschige und temporeiche Spiel passt, das Nagelsmann anstrebt. Statt also das Risiko eines sehr teuren Mittelsturm-Flops einzugehen, versuchen sich die Bayern an einer taktischen Veränderung – der vielleicht größten Revolution seit van Gaal.
FC Bayern: Lewandowski-Abgang – großes Loch oder große Chance?
Darauf deuten vor allem zwei Aspekte hin: Erstens sind die beiden Testspiele zu nennen. Sowohl gegen D.C. United (6:2) als auch gegen Manchester City (0:1) ließ Nagelsmann eine Doppelspitze auflaufen. Zweitens hat man mit Sadio Mané und Mathys Tel zwei Spielertypen für die Offensive verpflichtet, die ganz andere Spielertypen als Lewandowski sind.
Die Abkehr von einem klaren Zielspieler birgt offensichtliche Risiken, aber auch Chancen. „Es ist eine Herausforderung, es gibt ein neues Bayern München“, sagte Julian Nagelsmann auf der USA-Reise des FCB.
Man könne ohne dominanten Mittelstürmer variabler und flexibler sein. Es wäre sogar schwerer, die Bayern nun auszurechnen. Eine typische Trotzhaltung oder erleben wir in dieser Saison einen Aufbruch des Rekordmeisters?
FC Bayern der Zukunft mit flexiblem 4-2-2-2?
Im ersten Testspiel gegen D.C. United ließ Nagelsmann das Team in einem 4-2-2-2 auflaufen. Im regulären Saisonverlauf könnte das dann in etwa so aussehen:
Gerade auf den vorderen vier Positionen können die Spieler sehr viel rochieren und so Dynamik in die Offensive bringen. Deshalb ist es auch denkbar, dass Thomas Müller in dieser Ausrichtung häufiger außen vor sein könnte. Im Testspiel waren die vier Angreifer permanent damit beschäftigt, die gegnerische Kette zu attackieren und Bälle in die Tiefe zu fordern.
Vor allem die Doppelspitze Gnabry/Mané suchte sich immer wieder Schnittstellen zum durchstarten. Wie beispielsweise vor dem Elfmeterpfiff in der 4. Minuten, als Mazraoui rechts durchgestartet ist und den Ball anschließend gut in den Lauf von Gnabry legte. Etwas zeitversetzt starteten Leroy Sané (ballfern) und Lucas Copado in die Tiefe. Auf Letzeren konnte Gnabry dann ablegen (ab 11:25).
Chancen im 4-2-2-2
Die Formation passt insgesamt gut zu den Ideen von Nagelsmann, der es grundsätzlich mag, wenn viele Spieler im Zentrum positioniert sind. Und gerade weil Lewandowski das offenkundig nicht mochte, ist diese Saison vielleicht die erste, in denen zum ersten Mal hundertprozentiger Nagelsmann-Fußball bei den Bayern zu sehen ist. Ausgehend vom 4-2-2-2 lassen sich ohne großen Aufwand auch weitere Formationen herstellen, die der FC Bayern in der vergangenen Saison mindestens in Phasen verwendet hat.
Gegen Teams, die ohnehin wenig Druck auf den Spielaufbau ausüben, kann man mit einem einfachen Aufbaudreieck agieren. Eine Ebene weiter vorn kann der zweite Sechser eine Raute mit den restlichen drei zentraleren Spielern bilden, um das Mittelfeld mit dem Angriff zu verbinden. Außen gäbe es so Freiheiten für die schnellen Außenverteidiger, aber auch gute Möglichkeiten zur Dreiecksbildung am Flügel und sofortige Anbindung ans Zentrum (in der Theorie).
Auch das bereits in der letzten Saison häufig gesehene 2-3-5 wäre aus dem 4-2-2-2 heraus kein großes Problem. die vier Offensivspieler schieben nach vorn und auch Davies geht bis auf die letzte Linie. Zwei Spieler können sich bei Bedarf zudem in den Zwischenraum bewegen, dann entsteht eine bessere Staffelung im 2-3-2-3 – alles schon gesehen und unter anderem hier analysiert. Mazraoui hat die Qualität, als einrückender Außenverteidiger auch Aufgaben im Mittelfeld zu übernehmen.
Viel verändern würde sich also nicht. Aber die Chance in dieser Ausrichtung liegt in der Dynamik. Mit vier sehr schnellen und dribbelstarken Spielern könnte Bayern die gegnerische Kette permanent in Bewegung halten. Große Verantwortung käme hier selbstredend auf das Mittelfeld und die Außenspieler zu, die die Offensivspieler zum richtigen Zeitpunkt mit Bällen in die Tiefe füttern müssen.
Risiken im 4-2-2-2
Und an der Stelle haben wir auch das erste Risiko. Diese Ausrichtung könnte dazu verleiten, ständig das Gaspedal durchzudrücken. Stattdessen muss man immer wieder schauen, die Dreiecks- und Rautenbildung auf den Flügeln zu nutzen, um in ballferne Räume zu verlagern. Gegen D.C. United gab es mehrfach Verlagerungen, die keinen Empfänger hatten, weil irgendwie alle im Zentrum positioniert waren und keiner den offensiven Flügel entsprechend besetzte.
Alles eine Frage der Einstellung und der Abstimmung – gerade die beiden Außenverteidiger müssen aber viel Laufarbeit verrichten. Auf der Doppelsechs würde zudem viel an Joshua Kimmich hängen bleiben. Leon Goretzka ist ein hervorragender Pressingspieler und kann den Ball gut nach vorne tragen. Ein klassischer Kombinationsspieler, der sich viel in Zwischenräumen anbietet, ist er hingegen nicht.
Marcel Sabitzer könnte dieser Spieler sein. In den Testspielen machte er einen guten Eindruck. Wird er vielleicht der Nutznießer der Situation? Nutznießer können womöglich auch Gegner sein. Denn ein großes Problem der vergangenen Saison war eine gewisse defensive Anfälligkeit im Zwischenraum der Bayern – und von dort ausgehend dann auf den Flügeln. Immer wieder schafften es Teams, den zu großen Raum zwischen Kimmich/Goretzka und der Abwehrkette zu bespielen und dann auf die Flügel zu verlagern. Deshalb griff das Pressing oft nicht.
Das 4-2-2-2 wird diese Baustelle kaum lösen können. Zumal es noch ein weiteres Problem gibt: Was passiert eigentlich mit Thomas Müller? Nagelsmann kann den 32-Jährigen entweder in der Doppelspitze oder als rechten Halbraumspieler einsetzen. Aber entsprechen diese Rollen seinen Stärken?
FC Bayern vor Müller-Problem?
Zumindest ist er kein Tempospieler, der permanent den Raum hinter der Abwehrkette beläuft. Aber er ist einer, der diesen Raum öffnen und bespielen kann. Insofern könnte er durchaus ein beruhigendes Element innerhalb der sehr temporeichen Aufstellung sein. Einen klassischen Wandspieler, der den Ball mit dem Rücken zum Tor kontrollieren und andere Spieler nachrücken lassen kann, haben die Bayern nicht mehr. Müller ist als Ankerpunkt für Steil-Klatsch-Kombinationen aber eine gute Wahl – und auch Sané und Gnabry können das sehr gut. Statt also mit einem Wandspieler zu agieren, könnte Bayern zukünftig auch in Zwischenräumen auf zwei Spieler setzen, die den Ball nicht physisch, sondern eben spielerisch festmachen.
Für Müller wäre die Position als zweite Spitze wohl am besten geeignet. Als Halbraumspieler gäbe es nämlich noch die Frage, wohin er gegen den Ball verschiebt. Ein 4-2-2-2 wird ohne Ballbesitz zumindest in tieferen Zonen häufig zum 4-4-2. Das bedeutet, dass Müller dann meist als Rechtsaußen pressen würde. Die Qualitäten dafür hat er natürlich, aber im Zentrum ist das bayerische Herz des Pressings besser aufgehoben.
Schließlich sitzt das Herz des menschlichen Körpers ja auch sehr zentral, etwas im Halbraum und nicht in den Armen. Natürlich gibt es auch Optionen, den rechten Halbraumspieler nicht als Rechtsaußen anlaufen zu lassen – diese sind aber oft nicht optimal hinsichtlich Raumabdeckung oder Effizienz im Umschaltmoment.
FC Bayern der Zukunft doch mit der Dreierkette?
Gegen Manchester City packte Nagelsmann sein 4-2-2-2 zunächst wieder in die Schublade. Vermutlich aus Respekt vor der Offensivstärke der Skyblues – und weil er eine Dreierkettenformation ausprobieren wollte. Variationen des 3-5-2 haben die Bayern schon in der vergangenen Saison gespielt. Diesmal war es überwiegend ein 3-4-1-2 – interessanterweise mit Leroy Sané als Zehner und Thomas Müller in der Sturmspitze neben Serge Gnabry. Allerdings stand Sadio Mané auch nicht zur Verfügung. Im Alltag könnte die Formation dann so besetzt werden:
Chancen mit Dreierkette
Nur mit Blick auf die Grafik wird schon deutlich, dass eine solche Ausrichtung wohl am besten auf Müller zugeschnitten ist. Hier kann er gleichzeitig das Mittelfeld im Spielaufbau, die Außenspieler unter Druck und die Stürmer beim Aufreißen von Räumen unterstützen. Ein interessanter „Kniff“, den Nagelsmann schon in der letzten Saison häufig auspackte, war der Einsatz von Kingsley Coman als „Joker“ auf der rechten Seite.
Deshalb dachten viele, dass Bayern mit einer Viererkette spielt. Doch Nagelsmann bestätigte auf der Pressekonferenz anschließend, dass es eine Dreierkette war. Würde man die Taktiktafel etwas drehen, könnte man auch ein diagonales 4-2-3-1 herauslesen: Davies und Pavard sowie Coman und Mané als Außenspieler, Gnabry als Sturmspitze. Was das bringen soll? Flexibilität. Außerdem zeigt dieses Gedankenspiel, dass die beiden Formationen nicht so weit auseinanderliegen, wie oft angenommen wird.
Wenn selbst der Gegner nicht so richtig einschätzen kann, welcher Spieler in welchen Räumen auftaucht, ist man schwerer zu pressen. Und so kann Coman immer wieder nach innen ziehen, Mané und Gnabry können sowohl Bewegungen nach außen als auch nach innen machen und Müller hat jederzeit die Freiheit, sich zwischen den Linien aufzuhalten oder auch mal in die Tiefe zu gehen. Der Zehner muss in dieser Grundordnung dafür sorgen, dass die beiden Stürmer Räume hinter der gegnerischen Abwehr bekommen, in die sei reinstarten können.
Risiken mit Dreierkette
Das größte Risiko mit einer solchen Formation würde wohl darin liegen, dass Bayern seine Defensive zu sehr stabilisieren möchte. Geht das? Ja. Nagelsmann sagte jüngst auf einer Pressekonferenz fast schon unbemerkt: „Ich muss mich mehr auf unsere Leistungen fokussieren und weniger auf den Gegner einstellen.“
Die Dreierkette bietet viele Chancen, gerade gegen Mannschaften wie Manchester City, die mit sehr viel Ballkontrolle daherkommen. Aber wenn dann in einzelnen Situationen der Mut im Spiel nach vorn fehlt oder vielleicht die eine Anspielstation zu wenig im offensiven Mittelfeld vorhanden ist, hakt es gerne mal im Spiel nach vorn.
Strukturell hat der FC Bayern in dieser Saison einen deutlich besseren Kader für Dreierkettenformationen als noch in vergangenen Jahren. Offensivstarke Wingbacks auf beiden Seiten, flexibel einsetzbare Offensivspieler, ein üppig besetztes Mittelfeld mit sehr vielen Spielertypen und eine sehr breit besetzte Innenverteidigung – Nagelsmann kann aus dem Vollen schöpfen. Doch er muss dann auch die Balance aus Gegneranpassung und eigenen Stärken finden.
FC Bayern: Weitere Optionen und die Abkehr vom Flankenspiel?
Auch ein 4-3-3 mit falscher Neun wäre denkbar, wenn die Defensivabsicherung mal einen geringeren Stellenwert hat. Müller ist mit seiner Laufstärke und seinem einmaligen Gespür für den freien Raum einerseits, aber auch mit seinen technischen Fähigkeiten im Passspiel andererseits der optimale Spieler, um die Schnittstellen für die schnellen Angreifer zu öffnen. Und das in jeder Formation.
Seine Bedeutung für die Offensive wird deshalb noch mehr steigen. Zumal er der einzige Offensivspieler ist, der über eine gewisse Grundqualität im Kopfballspiel verfügt. Bayern hat in den letzten Jahren einen großen Anteil an hohen Flanken im eigenen Spiel gehabt. Fakt ist, dass sie das zwar durchaus weiter so praktizieren können, es ohne Lewandowski aber nochmal weniger Sinn ergibt.
Neben Müller gibt es mit Goretzka natürlich einen weiteren Abnehmer für hohe Hereingaben, aber einen zuverlässigen und wuchtigen Zielspieler gibt es nicht mehr. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass Bayern noch häufiger in die äußeren Zonen des Strafraums kommen muss (rot markiert), um flache Hereingaben zu ermöglichen, bei denen die Handlungsschnelligkeit der Spieler entscheidender ist als physische Merkmale.
Was macht der FC Bayern gegen ein 6-3-1?
In der Bundesliga werden die Münchner häufig auf Teams treffen, die den Strafraum mit Beton zumauern wollen. Neben den klassischen 5-4-1-Variationen gibt es nicht selten auch Momente, in denen die offensiven Flügelspieler so weit nach hinten schieben, dass Sechserketten entstehen. Aber was machen die Bayern gegen so ein 6-3-1? Haben sie wirklich die spanische Geduld, um auch solche Spiele souverän nach Hause zu bringen?
Schwer zu prophezeien. Fakt ist, dass Nagelsmann sowohl in Leipzig als auch in Hoffenheim immer Alternativen auf der Bank hatte, die abseits der dynamischen und schnellen Spieler eine Abkehr vom ursprünglichen Plan ermöglicht haben. Sandro Wagner ist da vielleicht das einprägsamste Beispiel. In einer Offensive voll mit schnellen und beweglichen Angreifern war er der Turm, der auch mal einen langen Schlag kontrollieren und festmachen konnte. Oder der eine Flanke verwertet hat. Oder der den restlichen Spielern Zeit gab, um nachzurücken.
Lewandowskis Qualitäten mit dem Rücken zum Tor wie auch seine Kopfballstärke wird der FC Bayern nicht auffangen können, ohne noch einen Spieler zu holen. Die Frage wird sein, ob sie beides brauchen – der Kader ist numerisch schon voll genug. Dass es taktisch möglich ist, ohne einen Fokuspunkt wie Lewandowski erfolgreich zu sein, haben in der Vergangenheit einige Klubs und Nationen bewiesen. Allen voran natürlich Spanien oder zuletzt Manchester City und Liverpool.
Bayern aber muss sich technisch dafür sehr steigern. Auch wenn es nur ein Testspiel war, so verloren die Münchner gegen Manchester City viel zu leicht den Ball. Ohne ein gewisses Grundniveau in Sachen Passschärfe und -genauigkeit werden die Bayern, so dynamisch die Formationen auch aussehen, keine Dynamik in ihr Spiel bekommen. Vieles steht und fällt mit Tempo und Präzision. Noch mehr als vorher.
Fazit: Riesige Fallhöhe, aber auch eine große Chance
Bayern kann den Ausfall von Lewandowski mit dem jetzigen Kader durchaus auffangen. Ohne den Polen ergeben sich sogar Möglichkeiten, den Angriffsfokus quasi minütlich zu verändern. Das kann für Bayern ein großer Vorteil werden. Sind die Bewegungsabläufe der Angreifer erstmal aufeinander abgestimmt, haben die Münchner eine hochinteressante Offensive.
So variantenreich die Angriffsformationen auch sind, so klar und eindeutig ist aber die Marschroute: Schnelle und möglichst facettenreiche Kombinationen, Eins-gegen-eins-Situationen provozieren, viel verlagern und geduldig auf die Lücken warten, immer wieder die Schnittstellen mit Tempo attackieren und Bälle in die Tiefe spielen.
Eine echte Brechstange gibt es nicht mehr. Außer Nagelsmann sieht in de Ligt den nächsten Daniel van Buyten. Auch die Option eines echten Wandspielers könnte schmerzlich vermisst werden. Einige Angriffe auf der USA-Reise hatten fast schon ein zu hohes Tempo. Es gab keine Möglichkeit für Mittelfeldspieler, entsprechend nachzurücken. Genau das kann aus zweierlei Hinsicht aber wertvoll sein: Mehr Optionen anbieten und gut für ein womöglich notwendiges Gegenpressing positioniert sein. Wird während dieser Tempovorstöße der Ball verloren, steht Bayern womöglich unorganisiert vor der Gefahr, ausgekontert zu werden.
Ein echter Neuner, der einen langen Ball (egal ob flach oder hoch gespielt) festmachen, kontrollieren und dann weiterverteilen kann, könnte dementsprechend sehr vermisst werden. In Ansätzen haben Sané, Müller und Gnabry jeweils Fähigkeiten, um das gemeinsam aufzufangen – nicht aber in der Zuverlässigkeit, wie sie von Lewandowski angeboten wurde. Spannend wird diese historische Umstellung aber allemal. Veränderung hin zu etwas Ungewissem führt oft zu Zweifeln. Für Nagelsmann ist die Fallhöhe riesig – die Chance, etwas ganz Besonderes zu schaffen, aber auch.