FC Bayern – Miasanrot-Adventskalender, Nummer 21: Philipp Lahm
Gerd Müller, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus, Philipp Lahm – für mich persönlich sind das die vier größten männlichen Fußballer in der deutschen Geschichte. Zumindest ab jenem Teil der Geschichte, den auch wir als jüngere Generation durch ausreichend Videomaterial und Berichterstattung nachvollziehen können.
Ich finde es bemerkenswert, wie selten Lahm tatsächlich unter den größten Fußballern überhaupt genannt wird. An dieser Stelle spare ich mir einen Witz über seine Körpergröße, aber ich weiß genau, woran Du bei diesem Satz gerade gedacht hast. Lahm wurde von vielen oft als bieder, langweilig und viel zu weichgespült betrachtet. Ich verstehe bis heute nicht, warum das so ist – abgesehen, von seinem tatsächlich biederen, langweiligen und weichgespülten Twitter-Account.
Sein legendäres Interview in der SZ, die Art und Weise, wie er Capitano Michael Ballack auch öffentlich rasierte, seine teils pikanten Einblicke in einem Buch, das er während seiner aktiven Laufbahn veröffentlichte – Lahm war sicher alles andere als langweilig. Vermutlich resultierte die Wahrnehmung auch daraus, dass er schlicht ein ganz anderer Typ war, als es Deutschland von seinen Größten gewohnt war.
Vieles regelte Lahm nicht aus der Emotion heraus, sondern aus einer schlicht einmaligen Rationalität. Das gefiel vielen nicht. Gerade Fußball, der durch seine Emotionen lebt. Und dann kommt da dieser unnahbare Typ um die Ecke, mit seinen rationalen und abwägenden Worten. Gut, auch Lahm vergriff sich mal inhaltlich. Beispielsweise als er nach dem 2:5-Debakel im Pokal gegen Borussia Dortmund zu erklären versuchte, wie dominant die Bayern eigentlich waren.
Philipp Lahm und eine einzigartige Rationalität
Aber überwiegend hatte er eine beeindruckende Sachlichkeit und Rationalität, die ihn nicht nur in Interviews, sondern auch auf dem Platz auszeichnete. Lahm steht für eine Kategorie an Fußballern, die viel zu oft unterschätzt wird. Es gab Saisons, da runzelte ich verwundert die Stirn, wenn ich Listen mit den besten zehn Spielern der Welt las.
Die wirklich schlechten Momente in der Karriere des Philipp Lahm lassen sich an einer Hand abzählen. Einer davon ist sicher das verlorene Duell mit Fernando Torres im EM-Finale 2008. Auf der anderen Seite gab es mit Lahm nur selten Spektakel. Sein Tor gegen Costa Rica 2006 machte Versprechungen, die seinem Naturell nicht entsprachen.
Aber Lahm war eine Maschine. Es war egal, wie groß der Druck auch war, er traf stets die richtige Entscheidung auf dem Platz. Lahm war fähig, das Spiel als Außenverteidiger zu prägen und zu kontrollieren, es gar zu dominieren – und es fiel trotzdem nur den Wenigsten auf. Pep Guardiola zog ihn später auch deshalb zunehmend ins MIttelfeldzentrum, weil er diese Fähigkeit erkannte und ihn noch stärker dort einbinden wollte, wo Spiele entschieden werden.
Das einzige, was Lahm wirklich “fehlte”, waren eben die spektakulären Momente. In den offensichtlichen Statistiken (Tore, Vorlagen) fiel er fast nie auf. Man muss nur auf die Liste verschiedener individueller Auszeichnungen schauen, um zu erkennen, warum das hin und wieder dazu führte, dass er schlicht keine Erwähnung fand oder nicht die Wertschätzung bekam, die seine Leistungen verdient gehabt hätten.
Weltklasse? Auf jeden Fall. Dem hätte wohl niemand widersprochen. Aber Lahm wurde von vielen ja nicht mal als der beste Außenverteidiger der Welt gesehen. Zugegeben: Dani Alves hat keine allzu schlechte Karriere hingelegt. Aber der Brasilianer hatte einen entscheidenden Vorteil: Er konnte seine größeren Schwankungen vor allem im Defensivbereich immer damit kaschieren, dass er offensiv spektakulär spielte.
Philipp Lahm: Der beste Außenverteidiger der Geschichte
Für mich persönlich war Lahm immer der bessere Außenverteidiger. Alves wäre der bessere Außenstürmer oder Flügelverteidiger gewesen – aber auch da kommt es auf das Anforderungsprofil des jeweiligen Trainers an. Lahms Trademarkgrätschen, sein Gespür für die richtigen Räume, seine präzisen Pässe – dieser Mann war ein Gesamtkunstwerk, ein Feuerwerk an Zuverlässigkeit. Ich meine damit nicht diese Rafinha- oder Pavard-Zuverlässigkeit. Das war zuverlässiges performen auf einzigartigem Weltklasseniveau – mit nur ganz, ganz wenigen Wellenbewegungen. Und ja, er war auch offensiv gefährlich, spielte dort gute Flanken oder hinterlief nimmermüde Arjen Robben, um ihm beinahe unbemerkt den Gegenspieler wegzuziehen. Das Flügeldreieck Müller-Robben-Lahm ist bis heute das Beste, das ich je beim FC Bayern sah.
Lahm ist zudem der spielintelligenteste Verteidiger, den ich je sah. Vielleicht sogar der spielintelligenteste Spieler überhaupt. Es gibt dieses alberne Wort “GOAT”, das viel zu emotional beladen ist und das mehr zu Streit als zu konstruktiven Diskussionen führt. Greatest of all time. Schon deshalb unsinnig, weil Generationen und Positionen sich kaum vergleichen lassen – und wir gar nicht wissen, was in “allen Zeiten” passiert.
Lahm aber ist der Spieler, der mich persönlich als Fußballer am meisten begeistert hat. Wie er ein Spiel gelesen und Einfluss darauf genommen hat, ist angesichts seiner Position einmalig. Er gehört für mich in die Kategorie der besten Spieler seiner Generation. Weltweit. Und auch in die Debatte um die größten Spieler der Geschichte. Schade, dass es für viele immer das ganz große Spektakel braucht, um das anzuerkennen. Rationalität und Sachlichkeit sind alles andere als langweilig.