State of Ancelotti

Steffen Trenner 07.10.2016

Es wirkte in den letzten Tagen so, als ob Carlo Ancelotti in 100 Tagen geschafft hätte, wofür Pep Guardiola zuvor drei Jahre brauchte. Aus den teilweise überschwänglichen Lobeshymnen („Auf Jahre unschlagbar“ – spox.com) vor und zum Start der Saison wurden nach einer Niederlage gegen Atlético und einem Unentschieden gegen den 1. FC Köln mal leise, mal laute Kritik an der Spielweise der Münchner unter dem neuen Coach laut.

Ancelotti, der die manchmal etwas merkwürdigen Pirouetten der medialen Berichterstattung aus Madrid, Mailand und London bestens kennt, wird das nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Dass sich zuletzt unter anderem Franck Ribéry mit einem öffentlichen Appell an die Mannschaft richtete und mehr gemeinsame Arbeit auf dem Feld einforderte, zeigt jedoch, dass es auch unter den Spielern eine gewisse Unsicherheit über die eigene Verfassung gibt.

Rund sechs Wochen nach dem ersten Pflichtspiel unter Ancelotti lohnt sich deshalb der Blick ins Detail. Wie ist die Lage beim FC Bayern unter dem neuen Coach?

Die nackten Zahlen:

Der FC Bayern führt mit drei Punkten Vorsprung vor Hertha BSC die Tabelle an. Viel wichtiger: Der Rekordmeister hat aktuell vier Punkte Vorsprung auf Dortmund sowie sechs auf Leverkusen und Mönchengladbach.

Die Münchner haben in der Bundesliga laut whoscored.com mit Abstand die meisten Abschlüsse pro Spiel (19) und innerhalb des Strafraums (13,3) und damit sogar noch etwas mehr als in der Vorsaison (18/11,7). Unter Ancelotti haben die Bayern etwas weniger Ballbesitz (65,8%/66,4%) und eine minimal schwächere Passquote (87,2%/88%). Sie lassen pro Spiel noch einen Schuss weniger zu als in der defensiv herausragenden Vorsaison (6,7/7,5). Der FC Bayern dribbelt seltener (21/27) und schlägt mehr Flanken als im letzten Jahr unter Guardiola (19/16). Robert Lewandowski führt die Mannschaft bei den Torschüssen mit 5,2 pro 90 Minuten auf die Nachkomma-Stelle genau wie in der Vorsaison an.

Soweit so unauffällig. Dass der FC Bayern mit 4/6 Heimspielen und Gegnern wie Bremen, Hamburg oder Ingolstadt eines der leichtesten Auftaktprogramme aller Bundesligisten hatte, soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. War in den ersten Spielen unter Ancelotti noch das Bemühen eines direkteren Spiels in die Spitze zu beobachten, ist dieser Trend nach dem sehr unrhythmischen Schalke-Spiel etwas abgeflaut. Gleichzeitig ist das Gegenpressing wieder etwas aggressiver geworden als noch zu Beginn.

Das Ancelotti-V

Grundstruktur im Aufbau unter Ancelotti.
Grundstruktur im Aufbau unter Ancelotti.

Die auffälligste Änderung im Vergleich zu den Vorjahren betrifft gleichzeitig das auffälligste Merkmal der Guardiola-Ära. Das Positionsspiel. Ancelotti hat die Strukturen im Angriffsspiel enorm vereinfacht. Das Ancelotti-V ist zum stilbildenden Merkmal geworden. Das V, das bei Alonso oder dem jeweiligen 6er beginnt ist vergleichsweise simpel, ermöglicht aber eine Vielzahl von Dreiecken. Die Flügelspieler können einkippen und die Außenverteidiger das V ergänzen oder durch hinterlaufen verlängern. Spielte Müller entstand hierbei zumindest ab und zu ein etwas asymmetrisches V, wenn es den Nationalspieler vom Flügel wegzog und Lahm hier die rechte Seite häufig alleine bespielte. Stand Rafinha in der Startelf, hielt der jeweilige rechte Flügelstümer wie gegen Köln stärker die Position, während der Brasilianer zurückhaltender agierte. Der Zehner-Raum ist in dieser Struktur ein reiner Ausweichraum für Lewandowski, die Flügelspieler oder einen nachstoßenden Mittelfeldspieler. Gepasst wird in diesen Bereich fast nie.

Das Ancelotti-V provoziert potenziell eine Reihe von direkten Duellen auf dem Flügel und ermöglicht das unter Heynckes und van Gaal immer wieder praktizierte „two-man-game“ mit einem Flügelstürmer und einem unterstützenden Außenverteidiger. Vor allem die Rolle der Außenverteidiger wird damit wieder linearer als noch in der komplexen Aufgabenstellung unter Guardiola. Alaba ist unter Ancelotti an 3,9 Torschüssen beteiligt. Im Vorjahr waren es nur knapp über 2 wenn er als Linksverteidiger aufgeboten wurde. Auch Lahm und Bernat sind an mehr Torschüssen beteiligt als im Vorjahr und Ribéry hat in 5 Spielen schon mehr Torbeteiligungen (7) als in 13 Auftritten im Jahr zuvor (5).

Auffällig ist, dass diese Struktur vor allem gegen tiefstehende Gegner (Werder, Hertha, 1. Hz. Köln) ansprechend funktionierte und gegen höher pressende Teams wie Ingolstadt und vor allem Atlético eher weniger. Gegen die Spanier wurde am ehesten deutlich, was Kapitän Philipp Lahm unter der Woche wie folgt ausdrückte: „Auch unser Passspiel ist nicht mehr so, wie wir es schon hatten. Unser Passspiel an sich hat sich natürlich nicht verändert, aber die Positionen auf dem Platz schon. Und das muss erst zu 100 Prozent greifen.“ Atléticos laufintensives, aggressives Spiel sorgte dafür, dass sich die Entscheidungszeiträume deutlich verkürzten. Es war den Münchnern in manchen Situationen anzumerken, wie sie nach der richtigen Position suchten und in dieser Zeit manchen Ballverlust in der Vorwärtsbewegung provozierten.

Vor allem das seitliche herauskippen der nominellen 8er auf die V-Linie kostet manchmal Zeit. Dass Bayerns Spiel mit dem etwas risikofreudigerem Thiago auf der 6 schneller und direkter wirkte, passt da ins Bild. Denn der Weg vom V zum verpönten, weil wenig durchschlagkräftigem U ist nicht weit.

Die große Frage ist, wie weit der FC Bayern mit dieser Struktur kommt. Unter Guardiola war das Positionsspiel mehr als ein Gerüst. Es war einwesentliches Element des Spiels, das allein den Unterschied ausmachen konnte. Die stärksten Momente mit dem Ex-Trainer in den Duellen mit Dortmund, dem 7:1 gegen Rom, den Siegen gegen ManCity oder dem Rückspiel gegen Atlético waren sehr eng mit einem nahezu perfekten Positionsspiel verknüpft, das zudem im Detail auf den jeweiligen Gegner angepasst wurde.

Unter Ancelotti wirken die beschriebene V-Struktur und einige andere wiederkehrende Muster eher wie ein grober Rahmen, der es den Einzelspielern ermöglichen soll ihre individuellen Stärken auszuspielen. Die individuelle Klasse steht wieder stärker im Vordergrund als die kollektive Dominanz. Die Leistungen des FC Bayern werden so wieder stärker zu einer Addition von Einzelleistungen. Gegen 90% der kommenden Gegner wird das wohl auch vollkommen ausreichen, doch schon das Atlético-Spiel hat hier zumindest für den Moment ein paar Grenzen aufgezeigt.

In der Vorsaison hatten Guardiolas Bayern die Verschiebe- und Umschaltmaschine der Madrilenen über drei von vier Halbzeiten dominiert und so viele hochprozentige Abschlüsse im Strafraum kreiert, wie kaum eine andere Mannschaft mit so viel Ballbesitz zuvor. Das Positionsspiel war auch hier der Schlüssel. Bei der 0:1-Niederlage in der Vorwoche war der FCB ebenfalls balldominant (67% Ballbesitz), aber eben nicht spieldominant. Dies auf noch nicht perfekt einstudierte Mechanismen und die vergleichsweise kurze Übungszeit zu schieben wie Lahm es andeutete, greift etwas zu kurz. Denn besonders komplex sind die bisher erkennbaren Strukturen eigentlich nicht.

Die Spiele gegen Leipzig, Leverkusen und Mönchengladbach, die zumindest von der Anlage her ähnlich spielen können wie Atlético, werden hier genaueren Aufschluss geben.

Ein Ausblick

Es wird spannend zu sehen sein, wie sich Bayerns Spiel in den kommenden Monaten weiterentwickelt. Bleibt es bei der groben Struktur im Ancelotti-V? Kommen mehr Variationen hinzu? Probiert der Italiener andere Formationen wie ein 3-1-4-2, das den Aufbau stärken, Müller von seiner Flügelrolle befreien und die Rückkehr der „Lineup of death“ mit fünf statt drei Offensivspielern ermöglichen könnte? Das wäre im Hinblick auf eine stärkere Ausrichtung auf die individuelle Überlegenheit der Bayern-Mannschaft nur konsequent.

Wichtig ist ohnehin, dass Ancelotti seine Vorstellungen umsetzt. Wenn er direkter spielen möchte, weil er den Ball schneller in gefährliche Bereiche bringen will, sollte er das tun. Wenn er auch mal aus einer lauernden Position agieren möchte wie mit Real Madrid damals in München, sollte er das tun. Ancelotti muss und soll hier seinen eigenen Weg finden. Nichts wäre schlimmer als ein FC Bayern, der die Ideen von Guardiola im Kopf, aber die notwendigen Tools (die durch die detailversessene Arbeit im Training implementiert wurden) nicht zur Hand hat.

Die Lage sechs Wochen nach dem ersten Pflichtspiel unter Carlo Ancelotti ist ok. Die Ergebnisse sind dabei vielleicht etwas besser als es die Spielweise vermuten lässt. Es gibt durchaus berechtigte Zweifel, ob die bisher vorgegebenen Strukturen ausreichen, um als Ballbesitz-Mannschaft gegen die oberen 10% der Bundesliga und der Champions League nachhaltig erfolgreich zu sein. Allzu abhängig von der individuellen Qualität der Einzelspieler sollte sich Ancelotti jedenfalls nicht machen.