„Nie wieder“: Erinnerungskultur. So wichtig.

Justin Trenner 27.01.2021

Erinnerungskultur. So wichtig. Heute ist der 27. Januar 2021. Vor exakt 76 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee der Sowjetunion befreit. Der Zweite Weltkrieg befand sich bereits in seinen letzten Zügen und hatte eine unvorstellbar hohe Anzahl an Menschenleben gefordert – manche Schätzungen gehen von bis zu 80 Millionen aus.

Ich erinnere mich an meine Schulzeit zurück, in der das Thema große Teile des Geschichtsunterrichts einnahm. Als Jugendlicher bist du schnell genervt von der Schule und dem, was du tagtäglich lernen und dir einprägen sollst. Auf Exkursionen, so ehrlich muss ich sein, war ich nie der Schüler, den Lehrer*innen gern dabei hatten. Doch eine verschlug selbst mir die Sprache.

Wir waren zu Besuch im Konzentrationslager in Sachsenhausen. An keinen Schulausflug kann ich mich besser erinnern, als an diesen. Sei es die Gaskammer, die Unterbringung der Insassen in viel zu kleinen Räumen und Betten oder eine Wand, an der Menschen reihenweise erschossen wurden. Von tagelangen Märschen, die ihr Ende im Tod fanden, wurde uns ebenso berichtet wie von der Gnadenlosigkeit, mit der Familien auseinandergerissen wurden.

Mir kamen mehrfach die Tränen, ich konnte nicht begreifen, wie Menschen zu so etwas in der Lage waren. Kein Film, keine Unterrichtsform und kein Lehrbuch konnten mir die Bedeutung dessen, was in Sachsenhausen und einigen weiteren Vernichtungslagern vor sich ging, so verdeutlichen, wie dieser Besuch. Alles war plötzlich so nah und greifbar. Doch gleichzeitig war es immer noch fern. Der Zweite Weltkrieg ist ein Produkt eines unvorstellbaren Menschenhasses.

Unser „Happyland“ und die Bedeutung

Wir – und damit sind folgend Menschen wie ich gemeint, die das Privileg genießen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, wann immer sie Lust dazu haben, beispielsweise in diesem Artikel anlässlich eines Erinnerungstages – wir können den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie und viele weitere menschenfeindliche Einstellungen und Ideologien führen – oder auch nicht. Betroffene können sich diese Freiheit nicht nehmen.

Für sie ist dieser Menschenhass nach wie vor Alltag. Nur, weil wir in einer offeneren Gesellschaft aufwachsen als jene Menschen vor 76 Jahren, sind die Probleme nicht behoben. Die Autorin Tupoka Ogette schreibt in ihrem Buch “exit RACISM” von einem Konstrukt, das sich “Happyland” nennt.

Happyland ist eine Welt, in der Rassismus das Vergehen der Anderen ist. Im Happyland wissen alle Bewohner*innen, dass Rassismus etwas Grundschlechtes ist. Rassismus ist NPD, Baseballschläger, Glatzen und inzwischen auch die AfD. […] Hinzu kommt, dass man in Happyland davon ausgeht, dass Rassismus etwas mit Vorsatz zu tun hat. Damit man etwas rassistisch nennen kann, muss es mit Absicht gesagt oder getan worden sein. Eine Wirkung, die der Verursachende desselben nicht beabsichtigt hat, liegt entsprechend nur im Auge des Betrachters und der Verursachende trägt keinerlei Verantwortung dafür.Tupoka Ogette: exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen, Unrast 2017.

In Happyland ist Rassismus stets das Vergehen des Gegenübers. Happyland ist ein Grund dafür, dass weiße Menschen sich sofort in eine Verteidigungshaltung begeben, sobald sie des Rassismus beschuldigt werden.

Alltags-Rassismus wird zu wenig reflektiert

Die Mechanismen sind uns nicht erst seit den Vorfällen rund um Clemens Tönnies, Steffen Freund oder jüngst Marcel Reif bekannt. Statt sich der Problematik der jeweiligen (sehr unterschiedlichen) Äußerungen bewusst zu machen, greifen Verteidigungen und nicht selten eine Täter-Opfer-Umkehr. Dabei geht es gar nicht darum, diese Menschen bloßzustellen oder sie in eine Schublade zu stecken, aus der sie nie wieder herausgeholt werden dürfen.

Rassismus wird oft als derart schwerwiegende Anschuldigung verstanden, dass Beschuldigte nur noch einen Ausweg in Rechtfertigungen und Selbstverteidigung sehen. Dadurch wird eine angemessene Reflexion erschwert. Dabei sollte es ausschließlich darum gehen, rassistische Denkmuster zu erkennen und zu hinterfragen. Ist Freund also generell ein Rassist, wenn er im Doppelpass abwertend über Menschen anderer Herkunft spricht? Nicht zwingend. Aber er reproduziert in diesem Moment Klischees und rassistische Denkmuster, die es zu reflektieren gilt. Zumal es genauer betrachtet gar nicht so verwunderlich ist, dass wir rassistische Denkmuster reproduzieren. Entscheidend ist der Umgang damit.

Erinnerungskultur und das sich ständige Bewusstmachen dessen, was Menschenhass in seiner extremsten Form bewirken kann, bedeutet aber auch, sich den Anfängen und Wurzeln dessen bewusst zu machen. Es bedeutet, zuzuhören, wenn Betroffene reden. Es bedeutet, zu reflektieren, wenn beispielsweise auf Rassismus hingewiesen wird.

Auch der FC Bayern erinnert sich (mittlerweile)

Rassismus ist nicht ausschließlich explizit. Rassismus betrifft vor allem Machtstrukturen, die aus Jahrhunderten der Unterdrückung entstanden und bis heute vorhanden sind – und von denen ich beispielsweise in den allermeisten Lebenslagen profitiere. Für mich geht es deshalb nahezu tagtäglich darum, mich meiner Privilegien bewusst zu machen und eine Sensibilität dafür zu entwickeln, dass Menschenhass nicht aus der Welt ist, weil es im Happyland kein Problem ist.

Der FC Bayern München wirbt anlässlich des Erinnerungstages im deutschen Fußball abermals mit der Kampagne “Mia san bunt!” Viele der Kommentare in den sozialen Netzwerken zeigen eindrucksvoll, wie sehr wir uns mitunter in unserem Happyland befinden. Dass der Klub sich in den letzten Jahren immer mehr mit seiner gesellschaftlichen Verantwortung auseinandersetzt, ist aber auch ein Positivbeispiel dafür, dass wir alle einen Beitrag zur Veränderung leisten können.

Beim FC Bayern sind es vor allem Fan- und Ultragruppierungen, die dafür gesorgt haben, dass der Klub sich nicht nur an seinen jüdischen Ehrenpräsidenten Kurt Landauer erinnert, sondern auch immer aktiver für die Werte einer modernen, offenen und toleranten Gesellschaft wirbt – was an dieser Stelle vor allem als Würdigung des Fanengagements verstanden werden soll. Dass auch innerhalb des Klubs der Weg noch sehr weit ist, um von einer Umsetzung dieser Werte zu sprechen, wurde nicht erst durch den Rassismus-Skandal am Campus deutlich, der immer noch weiterer Aufklärung bedarf, sondern unlängst auch an der komplizierten Zusammenarbeit mit Katar.

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Es liegt an uns

Wir haben die Wahl: Machen wir von unseren Privilegien Gebrauch? Und reicht es uns, dass wir uns vermeintlich nichts zu Schulden kommen lassen? Wir sind tolerant und für den Rest können wir nichts? Toleranz bedeutet in meinen Augen, nicht ignorant zu sein. Toleranz bedeutet für mich, sich trotz der Privilegien immer wieder für jene einzusetzen, die sich nicht zurückziehen können. “Alle Menschen sind gleich” genügt vielen, wenn sie auf ihre Meinung zu dieser Thematik angesprochen werden. Wir können das so einfach sagen. Für viele Bevölkerungsgruppen gilt das aber nicht.

Auch das ist für mich Erinnerungskultur. 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz mögen wir als Gesellschaft zwar weiter sein als damals. Aber weit genug sind wir noch lange nicht. Bis wir Happyland verlassen haben, werden noch viele weitere Jahre vergehen. Erinnerungskultur ist kein Tragen einer Schuld, die wir nicht mehr zu verantworten haben. Sie verdeutlicht aber die Verantwortung, den Entwicklungsprozess zu beschleunigen, überhaupt mitzugehen und das, was passiert ist, nie wieder möglich zu machen. Deshalb ist sie so wichtig. 

Abschließend möchte ich die Bücher von Alice Hasters („Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten) und der bereits zitierten Tupoka Ogette („exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen“) empfehlen. Beide Bücher sind auch bei gängigen Streamingplattformen als Hörbücher verfügbar und waren für mich ein Wendepunkt, an dem ich nochmal mehr über mich, meine Sozialisierung und viele weitere Aspekte nachgedacht habe.

Außerdem empfehlenswert: Max Czolleks „Desintegriert euch“.