Der FC Bayern und die Zufälligkeit des Erfolgs

Alexander Trenner 20.09.2020

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Was ist das? Richtig. Dies sind die letzten 31 Pflichtspielergebnisse der Bayern in Serie seit ihrer letzten Niederlage im Dezember 2019 in der Bundesliga gegen Borussia Mönchengladbach. Das zweitjüngste „W“ in der Reihe steht für den Triumph im Finale der Champions League Ende August in Lissabon, mit dem sich der Verein das Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League der Saison 2019/20 sicherte. Und mit dem Sieg gegen Schalke am vergangenen Freitagabend im Eröffnungsspiel der neuen Bundesliga-Saison macht die Mannschaft in der neuen Saison genau da weiter, wo sie in der letzten aufgehört hat.

Rückblende: Oktober 2018. Nur knapp zwei Jahre vor dem Triumph in Lissabon sehen sich Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß veranlasst, eine außergewöhnliche Pressekonferenz zu geben, weil sie ihre Mannschaft seit Wochen in den Medien unaufhörlich zu unrecht kritisiert sehen. Der einhellige Tenor der Gazetten: Schlecht zusammengestellter Kader, zu alt, zu langsam, zu behäbig, zu zerstritten, zu satt. Die Bayern befinden sich tief in der Krise. Niko Kovač, der damalige Trainer, befindet sich zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem in der Kritik und steht nach einschlägigen Medienberichten kurz vor seiner Entlassung. Er bleibt.

Nur ein halbes Jahr später, im März 2019, scheiden die Bayern in der Champions League nach einem diszipliniert erkämpften 0:0 im Hinspiel, welches damals als Achtungserfolg gewertet wurde, im Rückspiel kläglich 1:3 gegen Liverpool aus. Das Meinungsbild in den Medien ist ebenso eindeutig wie vernichtend: Dies ist das Ende einer Ära. Sportlich haben die Bayern einen Tiefpunkt erreicht und sind auf internationalem Niveau schlicht und einfach nicht mehr konkurrenzfähig. Von den glorreichen Zeiten unter Pep Guardiola ist nichts, aber auch gar nichts übrig geblieben.

Wieder ein gutes halbes Jahr später, im Oktober 2019, verlieren die Bayern erbärmlich 1:5 auswärts gegen Frankfurt, und diesmal wird auch Trainer Niko Kovač endgültig entlassen, nachdem seine Demission bereits seit langem in der Luft lag.

Und heute? Knapp 11 Monate später? Die neue Bundesligasaison hat gerade begonnen. Nach dem ersten Spiel der neuen Saison haben die Bayern inklusive des Gewinns des Champions-League-Titels im August in allen Wettbewerben 31 Spiele in Folge nicht mehr verloren, 30 davon sogar gewonnen und fast jedes einzelne dieser souverän. Sie haben währendessen so viele Tore erzielt wie kaum jemals zuvor in der Vereinsgeschichte und ihr Kader strotzt nur so vor Jugend, Talent, Kraft, Energie, Motivation und Geschwindigkeit und ist der Neid ganz Europas. 

Im Fußball wird oft gesagt, dass es für das Erreichen der ganz großen sportlichen Ziele einer jahrelangen, kontinuierlichen und methodischen Aufbauarbeit bräuchte. Auf Basis einer soliden Achse verlässlicher und starker Spieler bedürfe es eines stabilen und stimmig zusammengestellten Kaders – nicht zu jung, nicht zu alt, mit einer gesunden Mischung aus Erfahrung und jugendlicher Frische und Spritzigkeit – mit dem der Trainer über einen langen Zeitraum in minutiöser Kleinarbeit sukzessive seinen Spielstil etablieren kann (selbstverständlich alles in Abstimmung mit der Spielphilosophie des Vereins). Natürlich bräuchte es daher auch ein präzise auf diese Anforderungen ausgerichtetes Scouting und Recruiting am Transfermarkt sowie eine entsprechend abgestimmte Jugendarbeit mit langfristiger Perspektive, um einen steten Zufluss an passenden neuen Spielern gewährleisten zu können.

Das Garbage Can Model – Was der Fußball mit der Organisationstheorie zu tun hat

In der Organisationstheorie gibt es das sogenannte „Garbage Can Model“ (Mülleimer-Modell), das in den 1970ern von drei einflussreichen Organisationstheoretikern entwickelt wurde, um das Entscheidungsverhalten in anarchischen Organisationen zu beschreiben. Anarchische Organisationen in diesem Kontext zeichnen sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie keine stabilen, dauerhaften und einheitlichen Ziele haben bzw. sich ihre Ziele im Laufe der Zeit immer wieder ändern und dass auch nicht alle Organisationsmitglieder zwingend immer dasselbe Ziel zur gleichen Zeit verfolgen. Für viele der operativen Prozesse gibt es (noch) keine etablierten Vorgehensstandards, feste Regeln oder definierte Programme. Auch sind sie manchmal undurchschaubar und werden nicht von jedem Organisationsmitglied im Detail verstanden. Stattdessen befinden sie sich stets im Fluss und die Prinzipien von Trial-and-Error und Pragmatismus, wo Verständnis fehlt, kennzeichnen die Arbeitsweise auf der Suche nach dem besten Vorgehen. Außerdem gilt für anarchische Organisationen, dass ihre Mitgliedschaft stark fluktuiert. Es stoßen immer wieder neue Mitglieder hinzu und alte verlassen die Organisation.

In Bezug auf Entscheidungsprozesse stellen sich die drei Autoren solche anarchischen Organisationen als eine Ansammlung von Mülleimern (garbage cans) vor, in denen sich zufällige Kombinationen von Problemen, Lösungen, Teilnehmern und Entscheidungsenergie, d. h. Wille zur Entscheidung und die Energie, eine Entscheidung auch voranzutreiben, sammeln. Das heißt, dass in solchen Organisationen im Gegensatz zur klassischen Vorstellung Entscheidungen nicht im Wege eines idealtypischen, rationalen Entscheidungsprozesses getroffen werden, also indem zu entscheidende Probleme allgemein als solche erkannt werden und sich daraufhin die notwendigen Entscheidungsträger zusammenfinden um sie nach rationalen Maßstäben gezielt zu lösen. Vielmehr muss man sich die Entscheidungsfindung als quasi stochastischen Prozess vorstellen, bei dem eine bestimmte Entscheidung dann gefällt bzw. ein bestimmtes Problem gelöst wird, wenn in einem der Mülleimer zufällig gerade die passenden Entscheidungsträger mit zufällig derselben ausreichend hohen Entscheidungsenergie (oder Problemdruck) und entsprechendem Handlungswillen zu zufällig dem gleichen Zeitpunkt mit zufällig derselben Lösungsidee für zufällig dasselbe Problem aufeinandertreffen.

In ihrem ursprünglichen paper nennen die drei Wissenschaftler die moderne Universität als idealtypisches Beispiel einer anarchischen Organisation. Mit ihrer administrativen und fachlichen Komplexität verteilt über viele, teils lose gekoppelte Bereiche sind sie oft gekennzeichnet durch uneinheitliche bzw. unklare Ziele, nicht einheitlich und stringent definierte Entscheidungsprozesse, in denen ein pragmatisches Vorgehen häufig mehr zählt als das Befolgen fester Regeln, sowie an- und abschwellende Aufmerksamkeit wechselnder Akteure für bestimmte Probleme.

Sicherlich ließe sich diese Vorstellung recht fruchtbar auch auf moderne Fußballvereine übertragen, erscheinen sie doch manchmal wie ein einziges großes Experimentallabor, in dem unter Bedingungen regelmäßiger Fluktuation die wechselnden Mitglieder versuchen, mit oft uneinheitlichen Zielvorstellungen und ohne wirklich universell anerkannte beste Industriestandards in solchen Bereichen wie Trainingsmethoden, Taktik, Management, medizinische Versorgung und Gesundheit, Ernährung usw., im Trial-and-Error-Verfahren und unter Verwendung einer gesunden Dosis Pragmatismus immer bessere Lösungen zu entwickeln.

Allerdings möchte ich diesen Ansatz her nicht auf Fußballvereine als ganze, sondern in einer Abwandlung der originalen Idee auf Fußballmannschaften und ihre Bedingungen für sportlichen Erfolg adaptieren. Denn je länger ich den Fußball beobachte, desto stärker drängt sich mir das Bild auf, dass so wie in einer anarchischen Organisation getroffene Entscheidungen das Ergebnis einer zufälligen Zusammenkunft von Problemen, Lösungen, Entscheidungsträgern und Entscheidungsenergie sind, der aktuelle Erfolg einer Fußballmannschaft oft das Ergebnis einer zufälligen (glücklichen) spontanen Zusammenkunft von Trainer(n), Spielern, System, Taktik und einigen weiteren Umfeldfaktoren zu sein scheint.

Kaum etwas illustriert diese Adaption des Garbage-Can-Modells deutlicher als der Vergleich des FC Bayern vom August 2020 mit dem vom November 2019, zurückreichend bis zum Oktober 2018. In fast allen Bereichen – sportlicher Erfolg, Kaderqualität, Transfergeschick, Trainerleistung, Stimmung in der Mannschaft und im Verein, Managementkompetenz – liegen Welten zwischen damals und heute bzw. wird der Verein deutlich besser gesehen als noch vor recht kurzer Zeit: Nur knapp zwei Jahre liegen zwischen einem Verein am Rande des sportlichen Abgrunds mit einem überalterten, satten Kader ohne Geschwindigkeit und Esprit, zusammengestellt von einer unfähigen sportlichen Leitung ohne strategischen Plan, und einem Verein, der auf einer nie dagewesenen Welle des sportlichen Erfolgs reitet und dessen strategisch vorausschauend und mit viel Geschick zusammengestellter Kader der Neid halb Europas ist. Knapp 18 Monate liegen zwischen einem kläglichen Ausscheiden gegen Liverpool im Achtelfinale der Champions League, der emblematisch für den absoluten sportlichen Tiefpunkt in der jüngeren Vereinsgeschichte des FC Bayern steht, und dem Gewinn der Champions League zur Komplettierung des Triples. Sogar nur 10 Monate liegen zwischen einer der deftigsten Niederlagen der Bayern in ihrer Bundesligageschichte mit anschließender Trainerentlassung wegen sportlicher Perspektivlosigkeit, und 31 Pflichtspielen ohne Niederlage mit über 20 Siegen in Folge. Sogar nur wenige Wochen liegen zwischen dem FC Bayern, wie er noch unter Niko Kovač auftrat – defensiv, passiv, unzufrieden, unmotiviert, ohne Elan und Energie – und einem nicht mehr wiederzuerkennenden Hansi-Flick-FC-Bayern.

Wo blieb zwischen Oktober 2018 und heute, ja gar zwischen der Entlassung von Niko Kovač im November 2019 und der letzten Pflichtspielniederlage der Bayern Anfang Dezember 2019 die Zeit für die strategische Kaderentwicklung, die doch so notwendig für den großen Erfolg sein soll? Wo blieb denn die Zeit für den Aufbau und das jahrelange Einüben einer überlegenen Spielphilosophie? Wo waren die entscheidenden Spieleverpflichtungen, die den Unterschied machen konnten? Inwiefern war die Berufung Hansi Flicks wirklich Ergebnis einer von langer Hand geplanten, strategischen Wahl eines Trainers, dessen Spielphilosophie punktgenau auf die spielerischen Mittel des Kaders und selbstverständlich die Spielphilosophie des Vereins zugeschnitten war?

Die Adaption des Garbage-Can-Modells auf die Erfolgsbedingungen einer Fußballmannschaft zeigt anschaulich, dass es nicht zwingend all dieser so oft bemühten langfristigen, geschickten, vorausschauenden und strategischen Entscheidungen und Prozesse bedarf, damit eine Mannschaft sportliche Höchstleistungen erbringen kann. Wenn es nur ein zeitgleiches, spontanes Zusammenkommen einer Reihe glücklicher Umstände rund um Trainer, Mannschaft und Spielssystem gibt und alle Teile zueinander passen, kann alles auch ganz schnell gehen. Hansi Flick war genau der richtige Trainer zu genau der richtigen Zeit an genau der richtigen Stelle, der genau den passenden menschlichen Zugang und genau die richtige Spielidee für genau die Spieler, die er vorfand, hatte und der genau zu den Vorstellungen des Vereins passte. Erfolg als spontanes Ergebnis einer idealen Zusammenkunft von Trainer, Spielern, System und Verein und nicht einer jahrelangen, mühevollen Aufbauarbeit. Hansi Flicks Berufung zum Cheftrainer war in diesem Sinne nur der finale Baustein in einer Reihe zufälliger Glücklichkeiten des anschließend entstehenden Erfolgs. Das Resultat war (und ist) eine Mannschaft in perfekter Form mit herausragender Einstellung und Motivation, überragender Leistungsfähigkeit und phänomenalen Ergebnissen, eine 180°-Wende in fast allen Belangen von katastrophalem tiefschwarz noch vor kurzem zu hellst-glänzendem Bayern-rot, von Lachnummer Europas zu vielgepriesenem Triple-Sieger quasi über Nacht.

Was für den positiven Erfolg gilt, gilt anders herum auch für den negativen. Die Logik des Garbage-Can-Modells legt sehr anschaulich nahe, dass der Erfolg einer Fußballmannschaft ein flüchtiges und hochkontingentes Phänomen ist. Sollten beispielsweise zufällig einige der relevanten Personen plötzlich aus irgendwelchen Gründen keinen ausreichenden Handlungswillen mehr haben oder entscheidende Organisationsmitglieder ausscheiden, dann kann sich der sportliche Erfolg genauso schnell wieder verflüchtigen, wie er gekommen ist.

Der FC Bayern ist kein Einzelfall. Wie oft sehen wir Mannschaften, die plötzlich nach nur einer kleinen Änderung wiederauferstehen wie der Phönix aus der Asche oder auf einmal auseinanderbrechen ohne unmittelbar ersichtlichen Grund? Wie oft sehen wir Mannschaften, die nach einer endlosen Siegesserie plötzlich anfangen zu verlieren und zu verlieren? Mannschaften, bei denen nur ein einziger neuer Spieler oder ein neuer Trainer quasi über Nacht den Erfolg zurückbringen?

Die Behauptung, es gebe keinen schwarzen Schwan, ist in dem Moment widerlegt, in dem der erste schwarze Schwan gesichtet wird.

Spätestens seit dem Abend des Champions-League-Siegs der Bayern ist in meinen Augen jegliche Diskussion über die zwingende Notwendigkeit von „langfristigen Entwicklungsprojekten“ oder „jahrelanger Aufbauarbeit“ und dem „Beginn (oder Ende) einer Ära“ im Fußball hinfällig geworden.