Die Menschwerdung des Thomas Müller

Christopher Trenner 03.10.2016

Es läuft nicht recht in der neuen Saison für den Nationalspieler. Nach der Europameisterschaft, die erneut nicht das Turnier des Thomas Müller war, fremdelt er unter Carlo Ancelotti; er hat scheinbar noch nicht in das System des neuen Trainers gefunden. Am 6. Spieltag der vergangen Bundesliga-Saison stand Müller bereits bei sechs Toren und einer Vorlage. In dieser blieb der Offensivakteur bisher ohne Torerfolg, lediglich gegen Werder Bremen konnte Müller überzeugen – mit drei Torvorlagen. Zusammengerechnet stehen sieben gegenüber drei Scorerpunkten. In beiden Spielzeiten erzielte die Mannschaft bis zum fünften Spieltag genau die gleiche Anzahl an Toren. Daran kann es also nicht liegen. Aber was ist es dann?

Neue Rolle – alte Probleme

Thomas Müller spielt bei Carlo Ancelotti bisher vornehmlich als rechter Flügelspieler. Er ersetzt dabei Arjen Robben, aber auch Kingsley Coman und Douglas Costa; alle drei sind im Laufe der aktuellen Saison bereits mehrere Spiele ausgefallen. Thomas Müller spielt für diese drei Akteure den Lückenfüller auf der Außenbahn. Dabei fällt ein Mal mehr auf, dass er kein Flügelspieler ist: weder zeichnet Müller eine gute Ballkontrolle aus, noch verfügt er über besondere Dribblingtechnik oder über einen explosiven Antritt bzw. die Geschwindigkeit, um den Gegnern einfach davonzulaufen. Nur 0,6 Dribblings gelingen Thomas Müller pro Spiel – eigentlich zu wenig für einen Außenbahnspieler beim FC Bayern München. Arjen Robben lieferte im Schnitt in dieser Bundesliga-Saison bisher 4, Kingsley Coman 2,5, und Franck Ribéry 2,2 erfolgreiche Dribblings ab.

Zugegeben, Thomas Müller hat andere Qualitäten. Er liest das Spiel und prägte den Begriff „Raumdeuter“. Wegen ihm haben zahlreiche Fußballfans überhaupt angefangen, sich mit Taktik zu beschäftigen. Man wollte endlich verstehen, warum dieser Spieler ohne offensichtliche Fähigkeiten doch so erfolgreich ist. Müller bewegt sich da, wo ihn kein Gegenspieler erwartet bzw. wo er Gegner bindet und Platz für seine Mitspieler schafft. Dieses Spielverständnis ist einzigartig und doch fehlt es aktuell unter Carlo Ancelotti.

Ein selten gewordenes Bild im Jahre 2016.(Foto: Alex Grimm / Bongarts / Getty Images)
Ein selten gewordenes Bild im Jahre 2016.
(Foto: Alex Grimm / Bongarts / Getty Images)

Das Positionsspiel des neuen Bayern-Trainers bindet Müller nicht nur nominell sehr stark an die Außenbahn. Nur selten sieht man einen asymmetrischen Aufbau, wie er noch bei Pep Guardiola zum guten Ton gehörte. Während Guardiola Müller zwar auf eine ähnliche Position stellte wie jetzt Carlo Ancelotti, gibt es doch in der taktischen Lesart große Unterschiede. Beim Katalanen zog Müller verstärkt von der Außenbahn ins Zentrum. Stoßbewegungen in den Strafraum, aber auch das Besetzen der Halbräume waren Teil des Guardiola-Konzepts. Hier konnte sich Müller zwischen der Abwehr- und Mittelfeldlinie des Gegners austoben und diese stets vor schwierige Aufgaben stellen. Diese Bewegungen fehlen unter Ancelotti noch. Zwar gibt der neue Trainer den Spielern viele Freiräume auf dem Platz, allerdings hapert es noch an der Umsetzung, das Positionspiel der Münchner war in vielen Partien zu statisch und zu leicht ausrechenbar für die Gegner. Müller muss aufgrund des „U-förmigen“ Spielaufbaus viel stärker die Außenbahn halten, um als Anspielstation zur Verfügung zu stehen. In dieser Rolle ist er mehr Vorlagengeber. Die Zahl an Torschussvorlagen ist aktuell leicht über der der letzten Saison und das, obwohl seine Passquote um 4% gesunken ist. Das liegt auch an der Anzahl der Flanken, die Müller einstreut; nach Alaba und Bernat sind es die drittmeisten beim FC Bayern. Trotz der etwas unglücklichen Einbindung liefert Thomas Müller statistisch die meisten Key-Passes beim FC Bayern: 2,8 pro Partie. Das sind 0,6 mehr als Franck Ribéry. Dieser Wert zeigt sehr gut, dass er zur Zeit mehr Ideengeber als Raumdeuter ist.

Fehlende Genauigkeit als Unterschied

Blickt man nur auf die Statistik, dann liefert Thomas Müller über weite Strecken gleiche Zahlen wie in der Vorsaison. Der größte Unterschied sind bisher die erzielten Tore. Hier zieht sich eine Erfolgskrise, wenn man davon sprechen will, durch das gesamte Kalenderjahr 2016. In der letzten Bundesliga-Saison war es die Hinrunde, die herausgestochen ist: 14 Tore erzielte Müller damals. In der Rückrunde waren es nur sechs, das letzte am 32. Spieltag beim 1:1 gegen Gladbach. Zieht man die Zahlen seit dem 23. Spieltag der Vorsaison mit dieser Spielzeit zusammen, dann hat Müller in 15 Partien lediglich drei Mal treffen können. Hinzu kommen verschossene Elfmeter, wie gegen Atlético und Italien bei der EM 2016. Am ehesten leidet Müller aktuell daher unter einer Ergebniskrise. Die Torerfolge fehlen. Müller menschelt. Das lässt sich auch ein Stück weit in seinen Reaktionen ablesen, wenn ihm mal wieder ein Abschluss misslingt. Müller wirkt deutlich frustrierter und angefressener als in den vergangen Jahren. Er ist verbissener und von Außen betrachtet dünnhäutiger geworden. Man spürt förmlich, auf und neben dem Platz, dass Müller mit der gegenwärtigen Situation nicht zufrieden ist. Die Frage wird sein, wie Ancelotti das beheben kann.

Zuletzt unsicher vom Elfmeterpunkt.(Foto: Claudio Villa / Getty Images)
Zuletzt unsicher vom Elfmeterpunkt.
(Foto: Claudio Villa / Getty Images)

Eine Variante wäre die Abkehr vom 4-3-3 hin zu einem 4-1-4-1 mit Müller in einer Achter/Zehner-Rolle. Sein Problem ist aktuell, dass er der beste Flügelspieler im Kader ist, den Ancelotti aufgrund der vielen Ausfallzeiten für sein 4-3-3 zur Verfügung hat, auch wenn seine Dribblingwerte alles andere als gut sind. Dies wäre auf dieser Position aber notwending, um die meist im 4-4-2 verschiebenden Ketten der Gegner mit Tempo unter Druck zu setzen und so Räume im Zentrum zu schaffen. Müller kann das nicht so gut. Besser für ihn wäre daher eine Umstellung, die ihn mehr ins Zentrum schiebt, wo er seine Stärken hat. Dort kann er als Vorlagengeber bzw. Partner von Lewandowski zwischen den Linien arbeiten. Der Stürmer wäre stärker in seiner Rolle als Raumöffner eingebunden und könnte so Platz für die Flügelspieler Ribéry/Costa und Robben/Coman schaffen. Diese Abkehr wäre aber eine sehr radikale Umstellung vom bisher gesehenen Fußball von Carlo Ancelotti, zumal er hierfür wohl einen Platz im zentralen Mittelfeld opfern müsste. Nichtsdestotrotz wird sich der Trainer bald die Frage stellen müssen, die wohl jeden Bayern-Trainer und auch Joachim Löw über kurz oder lang immer beschäftigt hat: Wie binde ich Thomas Müller am Sinnvollsten in mein Offensivspiel ein? Im größeren Ganzen wäre da natürlich die Frage, welches Offensivkonzept Ancelotti beim FC Bayern verfolgen will. Das wird sich wohl maßgeblich an der Personalie Thomas Müller entscheiden und ist aktuell noch unbeantwortet. Ihn auf das Vorjahresniveau zu bringen, wird essenziell für den Erfolg dieser Mannschaft sein.