„Er erinnert an Spieler wie Carrick oder Busquets“

Steffen Trenner 29.08.2012

Herr Marić, welche Rolle hat Javi Martínez in den vergangenen Jahren bei Athletic Bilbao gespielt?

René Marić: Javi Martínez gilt in Spanien bereits seit Jahren als enormes Talent. Er wechselte schon als 17-Jähriger für rund 6 Millionen Euro zu Bilbao. In seiner Anfangszeit kam er zumeist als zentraler Mittelfeldspieler im 4-2-3-1, oder als rechter Mittelfeldspieler in einem 4-4-1-1 zum Einsatz. Dank seiner Vielseitigkeit konnte er bei Bedarf sogar als Mittelstürmer (wenn auch nur im äußersten Notfall) oder als nomineller Zehner auflaufen. Bis zur Saison 2010/11 war er unumstrittener Stammspieler im zentralen Mittelfeld, bei Bedarf wurde er verschoben, doch das kam selten vor. In der Saison unter Caparrós spielte er hinter zwei Stürmern in einem 4-3-1-2, indem er mit seiner Kopfballstärke selbst zum Abschluss kommen oder die beiden Angreifer mit seiner Passstärke einsetzen sollte.

Dann kam Trainer Marcelo Bielsa zu Bilbao – und mit ihm ein Philosophiewechsel. Der „hässliche“ Fußball für den Bilbao zuvor bekannt war, gehörte der Vergangenheit an. Man orientierte sich mehr an Barcelona. Mehr Pressing, mehr Passspiel – auch deshalb rückte Martínez unter Bielsa in die Innenverteidigung. Dies raubte ihm zwar etwas Torgefahr, er erzielte aber seit 2008 in jeder Saison mindestens vier Treffer. Außerdem sah er in der vergangenen Saison drei Mal die rote Karte. Ansonsten gilt er als absolute Führungspersönlichkeit und vorbildlicher Profi.

Was sind die Stärken von Javi Martínez und was bringt er den Bayern, was Luiz Gustavo nicht ohnehin schon bietet? 

René Marić: Martínez ist körperlich ungemein stark und robust. Mit 1.90m besitzt er Gardemaß, ist aber dennoch relativ flott auf den Beinen. Seine wirklich beeindruckenden Fähigkeiten bleiben jedoch auf den ersten Blick unentdeckt. Der Baske ist nämlich extrem spielintelligent und bricht gegnerische Angriffe fast unmerklich ab. Er beherrscht es wie nur wenige, durch das intelligente Zusperren von Räumen oder Abdrängen von Gegenspielern ohne gefährliche Grätschen den gegnerischen Angriffen die Gefahr zu nehmen. Außerdem ist er herausragend im Passspiel und kann bei Bedarf auch sehr vertikal agieren, wie ein Box-to-Box-Spieler. In seiner Spielweise erinnert er an Spieler wie Michael Carrick und Sergio Busquets, die bei zwei absoluten Spitzenvereinen Stammspieler sind. Matthias Sammer hatte ihn neben Busquets auch mit Reals Xabi Alonso verglichen.

Solche Spieler sollen und können den Ball erobern, ohne Fouls zu begehen und besitzen die nötige Intelligenz, um diese eroberten Bälle strategisch zu verteilen. Dadurch erhöhen sie nicht nur die defensive Sicherheit der Mannschaft, sondern können sofort Gegenangriffe einleiten oder bei Bedarf das Spiel beruhigen. Sie wirken sich somit nicht nur positiv auf das Defensivspiel und die Organisation aus, sondern auch auf die Offensive.

Dies dürfte auch der größte Unterschied zu Luiz Gustavo sein. Der Brasilianer covert ähnlich viel Raum, packt aber öfter die Grätsche aus, um gegnerische Angriffe zu unterbrechen. Ein gutes Beispiel ist das Verhalten bei gegnerischen Kontern. Gustavo ist sehr dynamisch und fängt viele Gegner entlang der gesamten Spielfeldbreite ab, oftmals jedoch mit einem Foul oder indem er den Ball ins Aus schlägt. Dadurch hat man zwar Zeit, um wieder sicher zu stehen, jedoch bleibt der Ball beim Gegner. Martinez ist insofern ein anderer Spielertyp, dass in seinem Defensivspiel der Fokus komplett auf Balleroberung statt Angriffsvereitelung liegt. Dank seiner Athletik und Technik kann er sich gegebenenfalls sogar selbst in die Angriffe miteinschalten, wobei dies riskant und laufintensiv ist.

Kurzum: sowohl Gustavo als auch Martínez sind sehr starke Spieler in der Defensive, im direkten Zweikampf dürfte der Brasilianer dank seiner außerordentlichen Dynamik und Geschicklichkeit leicht überlegen sein. Martínez ist jedoch passender für das Ballbesitzspiel der Münchner, ist im Aufbauspiel wertvoller und kann die offensiven Mitspieler mit guten Pässen gezielt einsetzen. Außerdem ist er „pressingresistenter“, kann also Anspiele besser verarbeiten und den Ball unter Druck besser behaupten.

Viel ist im Zusammenhang mit dem Martínez-Transfer auch über die Rolle von Bastian Schweinsteiger geschrieben worden. Ist Martínez in der Spieleröffnung und Spielgestaltung so stark, dass er auch die offensivere Rolle neben Gustavo einnehmen könnte? 

René Marić: Kurzum: ja, das könnte er. Er könnte durchaus eine Rolle wie Bastian Schweinsteiger spielen. Allerdings darf hier nicht vergessen werden, dass es im Fußball auch immer um Abstimmung geht. Wer bietet sich wann und wo an? Wer übernimmt den horizontalen und wer den vertikalen Part? Oder teilt man sich beides auf und jeder übernimmt eine Seite, offensiv wie defensiv? Reines Verschieben von Formationen oder Einsetzen neuer Spieler auf anderen Positionen kann wegen mangelnder Eingespieltheit oder überschätzter Synergien nach hinten losgehen. Bei Martínez muss man abwarten, wie er nach dem ganzen Hickhack um seine Person und die Ablöse mit dem Druck umgeht, wie er mit seinen Mitspielern auf dem Platz klar kommt und wie er sich in der Liga zurechtfindet. Das Potenzial für eine solche Spielweise als Schweinsteiger-Ersatz hat er, das Talent um sich schnell zurechtzufinden ebenfalls. Fraglich ist nur, ob es für den Bayern zweckdienlich ist, wenn er neben Gustavo agiert, anstatt mit Schweinsteiger das Spiel anzukurbeln und defensiv zu stabilisieren.

Ihr habt vor kurzem auf spielverlagerung.de die Möglichkeit ins Spiel gebracht, dass Gustavo, Martinez und Schweinsteiger auf dem Platz co-existieren könnten, wenn Martinez auf die Innenverteidiger-Position rückt und mit beiden im Spielaufbau und im Spiel gegen den Ball ein fluides Dreieck bildet. Wie ist eine solche Variante umzusetzen? 

René Marić: Dies ist eine interessante, aber unwahrscheinliche Variante. Hierzu kommt wieder der Faktor der Eingespieltheit und Abstimmung, doch es hat einen Grund, wieso wir diese Variante kurz beschrieben haben. Es ermöglicht den Bayern gegen tiefe Gegner mit mehr Spielern das Mittelfeld zu besetzen, es kaschiert Gustavos Schwächen und fördert mehrere Stärken unterschiedlicher Spieler zu Tage.

Wer das Spiel gegen die Fürther am ersten Bundesligaspieltag gesehen hat, konnte öfters Vorstöße der Innenverteidiger ins Mittelfeld beobachten. Da die Fürther tief standen und sich im zentralen Mittelfeld stark am Mann orientierten, waren weite Räume unbesetzt, aber die Anspielstationen für die Münchner Defensivspieler in der Vertikale blockiert. Dante und Boateng schoben darum nach vorne und stellten Überzahl her, was die zentralen Mittelfeldspieler befreien oder die offensiven Akteure anspielbar machen sollte. Das Problem war, dass Dante und ganz besonders Boateng etwas zu überhastet agierten und den Ball ungenau spielten. In diesem Beispiel sicherte aber zumeist Badstuber ab, der als Linksverteidiger agierte.

Wenn die Außenverteidiger nach vorne schieben und der Gegner raumdeckend agiert, dann kann sich stattdessen Gustavo fallen lassen. Martínez nutzt seine Technik, hat mit Gustavo eine enorm dynamische Absicherung und dazu mit Badstuber eine spielerisch starke Option für Rückpässe, falls er keine Lücke findet. Spielt der Gegner mit Manndeckung, dann kann Gustavo gar nach vorne schieben und Räume öffnen, einer Absicherung bedarf es gegen schwächere Mannschaft wegen deren Unterzahlspiel in der Offensive nicht.

Außerdem können Rotationen, also Positionswechsel zwischen den beiden, gegen Mannschaften praktiziert werden, wo es unklar ist, wie hoch sie pressen. Pressen sie hoch und auf die Innenverteidiger sowie das defensive Zentrum, dann hat man mit Martínez als Innenverteidiger mehr Ballsicherheit. Pressen sie tief, also erst weit hinter der Mittellinie, dann kann Martínez mit Ball am Fuß auf Gustavos Position schieben, während dieser absichert.

Gibt es Beispiele für  Mannschaften oder Spieler, die diese Variante in der Vergangenheit so umgesetzt haben? 

René Marić: Der FC Barcelona praktiziert Ähnliches. Busquets lässt sich in gewissen Spielen in die Abwehrreihe zurückfallen und Piqué rückt, wenn der Gegner sich tiefer stellt, etwas heraus und geht mit Ball am Fuß nach vorne. Wenngleich dies kein Dreieck ist, sondern eine Absicherung entlang einer horizontalen Linie. Eine solche Fluidität gab es historisch gesehen beispielsweise beim Wechselspielchen zwischen Libero und Vorstopper oder gar dem Zehner – man erinnere sich an Netzer und Beckenbauer 1972 bei der Europameisterschaft gegen England im Wembley-Stadion.

1992 spielte Ronald Koeman unter Cruyff in Barcelona ähnlich. Er wusste genau, wann er sich zurückfallen und die Außenverteidiger aufrücken ließ oder selbst nach vorne ging. Koeman spielte vor einer Dreierkette, aber dermaßen offensiv und frei, als wäre er Xavi. Eine solche Zwischenposition zwischen spielmachendem Sechser und Innenverteidiger hatte auch Rijkaard 1995 bei Ajax inne, beim totalen Fußball der 70er-Jahre in Amsterdam war dies ohnehin Gang und Gäbe. Dazu gäbe es mit Sammer und Fernando Hierro zwei weitere Spieler der 90-Jahre, die durchaus als „Stopper“ aufrückten. Zebec in den 50ern, Penev in den 60ern oder Mihajlovic in den 90ern sind unbekanntere Namen, welche diese Spielweise praktizierten. Italiener wie Baresi und Scirea hatten ebenso das Potenzial dazu, litten aber gelegentlich unter der defensiven Ausrichtung ihrer Mannschaften (vornehmlich in der Nationalmannschaft). Unter Guardiola und mit Dreierkette schoben auch die Innenverteidiger Barcelonas wegen ähnlicher Gedankengänge nach vorne: Herstellen von Überzahlen, Freispielen von Mitspielern.

Die Krux liegt darin, diese Spielweise auf die Moderne und die Viererkette zu transferieren, weswegen der Gebrauch vorerst auf einen tiefen Gegner und bevorzugt mit Manndeckung auf die zentralen Mittelfeldspieler beschränkt sein sollte. Insofern wäre es etwas Innovatives für die Bayern, aber das muss ja nichts schlechtes sein.

Bayerns größte Herausforderung in den vergangenen Jahren war stets der Spielaufbau gegen defensiv gut organisierte Gegner. Dies galt sowohl für Mannschaften, die sehr tief stehen, wie zuletzt Fürth in der ersten Hälfte, als auch Mannschaften mit einem aggressiven Gegenpressing (Dortmund/Mainz). Was sind Gegenmittel gegen diese Spielweisen und welche Rolle kann Martínez dabei spielen? 

René Marić: Ein Gegenmittel steht bereits oben beschrieben: Aufrücken mit Ball am Fuß bei passender Ballsicherheit, um die tiefe Formation und die mannorientierte Deckung des Gegners auszuhebeln. Für das Neutralisieren von aggressivem und konstant praktiziertem Gegenpressing benötigt man Leute wie eben Martínez, die gut in der Ballbehauptung sind. Sie können den Ball am Fuß halten, bis sie eine Anspielstation gefunden haben. Die meisten Spieler verlieren in diesen Momenten zwischen Ballannahme und Ballabgabe, also während des Gedankenprozesses zum Abspiel, den Ball an das Gegenpressing solcher Mannschaften.

Hier sind neben Technik auch Handlungsschnelligkeit, effiziente Bewegungen und Übersicht gefragt, was Martínez in sich vereint. Fraglich ist, ob er dies nutzen kann, denn nicht nur Gegenpressing ist zu weiten Teilen eine Mentalitäts- und Einstellungssache, sondern ebenso die Reaktion auf ein solches. Mit seinem Auge und seiner Ballsicherheit ist er aber ideal für das spielerische Befreien aus engen Situationen, das Aufbauspiel gegen pressende Gegner und das Abfangen gegnerischer Angriffe mit Ballsicherung innerhalb der eigenen Reihen. Insofern wäre er just das, was die Bayern benötigen, um eine Steigerung zum defensiv wirklich hervorragenden Luiz Gustavo im zentraldefensiven Mittelfeld zu erfahren.

Der Bayern Blog dankt für das Gespräch.