Philipp Lahm: Die Legende sagt Servus!

Justin Trenner 15.05.2017

Um den Legendenstatus zu erreichen, musste Lahm sich nicht verändern. Er hat seine Prinzipien nie an dem orientiert, was die Öffentlichkeit von ihm verlangte. Fragt man Lahm heute nach Typen, so sagt er mit einem Lächeln dasselbe, was er vor einigen Jahren gesagt hat: “Der Fußball hat sich verändert.” Nur heute glauben ihm mehr Leute.

Es ist eine Phrase wie diese, bei der die Leute ihre Augen verdrehen. Man kann sie aber auch als Teil einer tieferen Aussage sehen, die er nur andeutet, aber aus Respekt niemals äußern würde.

Lahm ist Weltmeister, Champions-League-Sieger, achtfacher Meister und sechsmaliger Pokalsieger. Das sind nur die wichtigsten Titel seiner Karriere. Der 33-Jährige ist das Gesicht einer goldenen Generation beim FC Bayern und etablierte einen Führungsstil, der sich deutlich von dem eines Oliver Kahn oder Stefan Effenberg unterscheidet.

Philipp Lahm erlebte zwei Generationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hilfreich für seine große Karriere.
(Foto: Christof Koepsel / Bongarts / Getty Images)

Der ideale Schwiegersohn

Fragt man heute Bayern-Fans im Alter zwischen 15 und 30, wer ihr Vorbild oder Lieblingsspieler sei, wird oft Bastian Schweinsteiger zuerst genannt. Niemand würde Lahm vergessen, aber ersterer ist mit seiner Art greifbarer für die Zuschauer.

Der ehemalige Vize-Kapitän der Münchner hatte eine Karriere zum mitleiden und fühlen. Es war eine, die mit Höhen und Tiefen ausgestattet war.

Lahm hingegen war stets die Konstanz in Person. Natürlich hatte auch er seine Tiefpunkte, aber er war immer unumstrittener Stammspieler und Leistungsträger. Fehler machte er nur wenige und schlechte Spiele gab es bei ihm noch viel seltener.

Der größte Unterschied zwischen Schweinsteiger und dem Kapitän dürfte aber sein, dass Lahm eine kalkulierbare, selten emotionale Art hat. Alles ist berechnet und geplant, nichts wird dem Zufall überlassen. Es gibt nur ganz wenige Ecken und Kanten, die er der Öffentlichkeit preisgegeben hat.

Dort war er regelmäßig der perfekte Schwiegersohn, der nichts falsches sagt und darum bemüht ist, keinerlei Schlagzeilen zu produzieren, wenn er keine Notwendigkeit darin sah. Vorgefertigte Phrasen, wie die, die es wöchentlich auf seinem Twitteraccount zu lesen gibt, zählten zum Rüstzeug des Kapitäns.

Unbequem, konsequent und distanziert

Doch der gebürtige Münchner kann auch anders. Das dürften nicht zuletzt Uli Hoeneß und Michael Ballack wissen. Passt etwas nicht in Lahms Pläne, so kann er auch unbequem werden.

Es ist bemerkenswert, dass sein legendäres SZ-Interview, in dem er sich stark kritisch über die fehlende Philosophie beim FC Bayern äußerte, quasi direkt am Anfang der Ära datiert ist, die er prägte.

Noch viel bemerkenswerter ist, dass ein Spieler einen solch weiträumigen Blick entwickelt hat. Lahm hatte die Probleme der Münchner erkannt, analysiert und beim Namen genannt, als wäre er seit Ewigkeiten Teil des Vorstands. Im Alter von knapp 27 Jahren.

Zumal es auch nie so war, dass er Verantwortung weggeschoben hätte. Seine Kritik war immer reflektiert, distanziert und gut begründet. Wenn es dazu Grund gab, kritisierte er auch sich selbst.

Jede seiner Aussagen hat einen tieferen Sinn, jedes Interview gibt manchmal mehr preis, als man zunächst vermutet. Alles ist Teil eines Systems und nichts von dem, was er sagt, ist Zufall. Seine größten Kritiker werfen ihm genau das vor.

Leute wie Thomas Müller wären es, die der Fußball brauche. Extrovertierte, emotionale Spieler, die sagen, was sie gerade denken. Doch Lahm blieb sich immer treu, veränderte sich nicht und verfolgte seinen Plan. Mit aller Konsequenz.

Und wer bei seinen Interviews genau aufpasst, der hört, dass Philipp Lahm eben doch einzigartig ist und jemandem manchmal nur das Gefühl gibt das zu hören, was er gerne hören würde. Der Verteidiger ist ein Meister der indirekten Sprache und weiß ganz genau, was er wie zu äußern hat.

Weil er ein Typ ist. Anders als die Definition es in Deutschland vermutlich hergibt, aber er ist eine moderne Variation dieses Begriffs. Er braucht keine aggressiven und lauten Worte. Lahm lenkt alles um sich herum mit Intelligenz, Ausstrahlung und Psychologie.

In seiner Karriere hat er gezeigt, dass man kein dominanter Leitwolf im ursprünglichen Sinne sein muss, um Einfluss auszuüben. Er traf konstant die richtigen Entscheidungen und das machte ihn zum perfekten Führungsspieler.

Mit dem Vorstand war Lahm nicht immer einer Meinung, doch mit seiner Art verschaffte er sich viel Respekt.
(Foto: Alex Grimm / Bongarts / Getty Images)

Der 33-Jährige wird als Führungsfigur fehlen. Die flache Hierarchie, die vor allem durch ihn geprägt wurde, wird es zwar einfacher machen einen Nachfolger für das Kapitänsamt zu finden. Er wird aber mit seiner sportlichen Qualität und vor allem als Mensch ein riesiges Loch im Verein hinterlassen.

Jemanden zu finden, der als Bindeglied zwischen Mannschaft, Trainer und Vorstand jeweils einen so großen Einfluss hat, ist fast unmöglich. Zumal Lahm das alles geschafft hat, ohne sich großartig unbeliebt zu machen.

Der Dominator von der Isar

Ebenso unmöglich ist es, einen Rechtsverteidiger zu finden, der das Spiel so dominieren kann wie Lahm. Mit seiner Art Fußball zu interpretieren und zu spielen ist es wie mit seinen Interviews. Jede Bewegung, jeder Pass, jede Anweisung und jede Aktion unterliegt einem größeren Plan.

Lahm überlässt auch hier nichts dem Zufall. Gemeinsam mit Arjen Robben bildete er über Jahre das beste Außenbahn-Duo der Vereinsgeschichte. Ribéry und Alaba waren in einer gewissen Phase vielleicht ästhetischer, aber die Effizienz und Intelligenz der beiden ist unerreicht.

Oft wird über Arjen Robben behauptet, dass jeder weiß, was er macht, doch es sei nicht zu verteidigen. Der Grund dafür ist oftmals Philipp Lahm gewesen. Seine Läufe und seine einmalige Spielintelligenz öffneten dem Niederländer so viele Räume. Auch dank des Kapitäns hatte Robben seine beste Zeit beim FC Bayern.

Spektakulär war Lahm noch nie. Deshalb lief er in vielen Phasen seiner Karriere, aber speziell bei individuellen Auszeichnungen unter dem Radar. Doch er war immer der beste auf seiner Position.

Pep Guardiola bezeichnete ihn nicht nur als intelligentesten Spieler, den er je trainiert hat, sondern lobte vor allem eine weitere Qualität. Der Münchner sei der einzige Außenverteidiger auf der Welt, der ein Spiel von dieser Position dominieren könne.

Eine Aufgabe, die sonst nur aus dem zentralen Mittelfeld lösbar schien, löste Lahm mit einer oft extremen Diagonalität in seinem Spiel. Ballbesitz, Spielaufbau, enge Situationen auflösen, Gegenpressing, Räume öffnen, Überzahl schaffen… am Ende seiner Karriere fusionierte der Verteidiger gleich mehrere Rollen.

Die Beziehung zwischen Pep Guardiola und seinem Kapitän war eine ganz besondere.
(Foto: Odd Andersen / AFP / Getty Images)

Oft waren es unscheinbare Bewegungsabläufe, die die Struktur des Gegners im Sekundenbruchteil zum schlechteren verändert haben. So wie sein persönlicher Trademark-Move, wenn er ein Dribbling ins Zentrum antäuschte, um schließlich mit einer einfachen Drehung die nun freie Außenbahn zu nutzen.

Den wichtigsten Faktor seines Spiels vergaß er bei all seiner Entwicklung aber nie und das war die Balance. Es gibt viele Außenverteidiger, die Lahm in der Offensive überlegen waren und sind, aber es gab nie jemanden, der kompletter war.

Seine fehlende Torgefährlichkeit kompensierte er mit Verstand. Die Spielweise war vergleichbar mit seinem Führungsstil. Lahm versuchte nie etwas alleine zu erzwingen, sondern war immer darum bemüht, gemeinsam intelligentere Lösungen zu finden.

Sein Zweikampfverhalten und Stellungsspiel sind ebenso einmalig gewesen wie seine Spielintelligenz in Ballbesitz. So wie er mit dem Spielgerät schon mehrere Aktionen vorausdenken konnte, tat er dies auch in der Verteidigung.

Und lief er mal hinterher, gab es immer noch sein zweites Markenzeichen, die Lahm-Grätsche. Grätschen sind bei vielen modernen Trainern ein Hinweis darauf, dass vorher schlecht verteidigt wurde. Beim Kapitän waren sie jedoch stets pure Kunst.

Lahms Tacklings waren nicht nur so einzigartig, weil er nur selten einen Zweikampf verlor. Sie waren es vor allem deshalb, weil er damit den Ball oft so gewann, dass sich direkt eine neue Spielsituation für sein Team ergab.

So berechenbar seine Interviews auch waren, auf dem Platz konnte niemand erahnen, was Philipp Lahm schon wieder plant. Ein Faktor, der den Bayern viele Titel brachte.

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Du wirst fehlen, Philipp

Es mag sein, dass seine berechenbare und kalkulierbare Art nicht für jeden faszinierend ist. Aber Lahm ist seinen Weg konsequent gegangen und wird eine Karriere hinterlassen, die seine Entscheidungen bestätigt.

Der ehemalige Nationalspieler könnte der Mannschaft gewiss noch weiterhelfen, doch er hat für sich entschieden, auf höchstem Niveau aufzuhören. Auch das unterscheidet ihn von Bastian Schweinsteiger. Er will selbst bestimmen, wann seine Karriere vorbei ist.

Eine Entscheidung, die erneut den einzigartigen Blick Lahms auf das große Ganze aufzeigt. Für ihn zählt nicht nur die Aktualität. Der 33-Jährige lernt aus der Vergangenheit und plant für die Zukunft, um genau jetzt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das eint den Menschen Lahm mit dem Fußballer Lahm.

Nicht wenige haben behauptet, dass Schweinsteiger der wahre Kapitän des Teams war, das 2013 den Höhepunkt mit dem Triple erlebte. Die Wahrheit ist, dass beide ihren Anteil hatten. Aber Philipp Lahm war die berechtigte und richtige Wahl für das repräsentative Amt des Kapitäns.

Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm. Zwei Vereinslegenden, die eine Ära prägten.
(Foto: Adam Pretty / Bongarts / Getty Images)

Lahm überlässt einfach nichts dem Zufall und deshalb wird er sehr bald sein erstes Interview als Ex-Spieler geben, lächeln und irgendetwas vorhersehbares sagen.

Einige werden die Augen verdrehen, viele Bayern-Fans hingegen werden ebenfalls lächeln. Mit einem strahlenden Auge, weil sie einen der drei größten Fußballer der Vereinsgeschichte sehen und mit einem weinenden, weil sie ihn vermissen werden.

Den Philipp Lahm, der die erfolgreichste Ära des FC Bayern prägte und das Gesicht einer goldenen Generation ist. Der so auffällig unauffällig war und dessen Stellenwert in München wohl emotional erst vollends begriffen wird, wenn er tatsächlich nicht mehr dabei ist.

Vielen Dank für alles, was du für den Klub und uns Fans in all den Jahren geleistet hast. Du wirst fehlen, Philipp. Aber hoffentlich nicht allzu lange.